Roter Hibiskus: Roman (German Edition)
nicht schlecht – aber sie hat überhaupt keine Ahnung, wie der menschliche Körper zusammengesetzt ist. Ich musste ihr Tonys Ausgabe von Gray’s Anatomy bringen, damit sie es sich anschauen konnte.«
Mara stockte der Atem. Natürlich würde Lillian von aufrichtiger Kritik profitieren, aber der Himmel mochte wissen, wie sie darauf reagiert hatte.
»Sie war fasziniert!«, fuhr Lillian fort. »Tony kann von Glück reden, wenn sie ihm das Buch jemals wieder zurückgibt!«
Mara zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Dann ist also alles in Ordnung?«
»O ja«, erwiderte Helen. »Sie schläft und isst. Und die Mädchen beten sie an. Wenn es ihr ein bisschen bessergeht, will sie ihnen bei den Hausaufgaben helfen.«
»Und kommen Sie mit dem Essen gut klar?«
»Ja, da gibt es überhaupt keine Probleme. Ich mache abends immer einen Eintopf – so ist es einfacher, ihr ihren Teller ins Krankenzimmer zu bringen.«
Mara hätte beinahe gelächelt. »Und sie hat noch nichts von verschiedenen Tellern erwähnt?«
»Doch, als die Mädchen ihr das erste Mal das Essen gebracht haben, hat Lillian etwas darüber gesagt. Aber Hilary hat ihr erklärt, dass man dankbar für das sein müsse, was es gäbe. Danach hat sie es nicht mehr erwähnt.« Helen beugte sich zu Mara, als ob sie ihr ein Geheimnis anvertrauen wollte. »Tony sagt, sie muss mindestens noch eine Woche, vielleicht sogar länger, im Krankenhaus bleiben, bis sie wieder gesund ist. Ich hoffe, sie tut es. Wir haben sie schrecklich gerne bei uns.«
Mara begriff, dass das Missionskrankenhaus tatsächlich so etwas wie eine sichere Zuflucht für Lillian war. Sie stellte sich vor, wie Helens Töchter sie umringten, ihr die Haare bürsteten, und wie sie die Augen schloss, während die Kinderstimmen lachten, plapperten und sangen …
»Danke, dass Sie sich um sie kümmern«, sagte Mara.
»Es ist nett, zur Abwechslung mal nicht die einzige europäische Frau zu sein. Sie müssen uns bald besuchen kommen, sobald Sie sich von diesen vielen Gästen erholt haben.« Helen schenkte Mara ein mitfühlendes Lächeln. »Sie können es wahrscheinlich kaum erwarten, dass alle wieder weg sind. Nach dem, was Lillian mir erzählt hat, muss es hier ganz schön hektisch zugegangen sein. Und Sie freuen sich ja sicher auch schon auf Johns Rückkehr.«
Mara schluckte und nickte. Sprechen konnte sie nicht. Plötzlich wünschte sie sich, dass sie, ebenso wie Lillian, Zuflucht in Helens heiler, sicherer Welt finden könnte. In diesem Moment erschien Kefa wieder in der Tür. Er hielt den pinkfarbenen Sombrero und Lillians L’Air-du-Temps- Flasche in der Hand.
»Das sind die letzten Sachen.«
Helen griff nach dem Hut, ließ aber die Parfümflasche in seiner Hand. »Die nehme ich nicht mit. Lillian möchte das Parfüm Ihnen schenken, Mara.«
Mara nahm die Flasche und blickte auf den satinierten Glasstöpsel in Form von zwei Tauben. Sie dachte daran, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte, als Lillian ihre Koffer ausgepackt hatte. Wie romantisch es ihr vorgekommen war, dass die beiden Schnäbelchen sich wie bei einem Kuss berührten. Damals hatte das Symbol der Liebe sie traurig gemacht, weil es sie daran erinnert hatte, wie unglücklich sie war. Was die nächsten Wochen dann gebracht hatten, hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
Und als sie jetzt wieder auf die Glasflasche blickte, fiel ihr etwas auf, was sie damals nicht bemerkt hatte. Die Flügel der Vögel waren ausgebreitet. Die Tauben saßen nicht auf einem Ast, sondern waren sich im Flug begegnet. Schon Sekunden später würden sie sich trennen und weiterfliegen. Aber der kostbare Moment ihres Kusses war für immer eingefangen in einer Skulptur aus Glas. Der Gedanke war seltsam tröstlich. Mara hob die Flasche ans Gesicht. Auch ohne den Stöpsel herauszuziehen, roch sie das schwere, süße Parfüm.
»Es ist eine wunderschöne Flasche«, sagte Helen.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Mara.
Kefa brachte den letzten Koffer von drinnen. Er schob den kleinsten Koffer unter den Arm und hob die anderen beiden hoch.
»Soll ich sie zu Ihrem Auto bringen?«, fragte er Helen.
»Danke«, sagte Helen und neigte den Kopf. Zu Mara gewandt fügte sie hinzu: »Sie haben Glück, so einen guten Haus-Boy zu haben.
»Haus-Boy«, wiederholte Mara. Wie immer kam ihr die Bezeichnung seltsam vor für einen Mann von vierzig Jahren, einen Vater von fünf Kindern. Aber jetzt fand sie sie außerdem noch falsch, wenn sie daran
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