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Roter Regen

Titel: Roter Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moritz
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verschaffte sich nun das bislang gebändigte rote
Lockenhaar Luft. Grüne Augen blitzten sich an.
    »Zora«, stieß Killian aus.
    »Killian«, entfuhr es Margit.
    Sofort sprangen beide auf. Margit schaufelte nach Löß und
schleuderte ihn Killian ins Gesicht. Der schüttelte sich wie ein Hund, ahnte,
dass eine zweite Ladung auf ihn zuschoss, und hechtete mit einer Flugrolle
unter dem Beschuss hindurch, sodass er in die Nähe von Margits Beinen gelangte.
Er packte sie bei den Füßen und riss sie zu Boden. Dann setzte er sich über sie
und tunkte ihren Kopf mehrere Male in den schleimigen Löß. Dann entdeckte er
noch etwas Besseres: Er packte Margit beim Schopf und am Gürtel ihrer Jeans und
schleifte sie zu einem Heer von Brennnesseln, die sich am Rande des Rains in
die Sonne reckten.
    Margit riss die Augen auf. »Das wagst du nicht! Ich warne dich! Du
bist tot!«
    Killian genoss den Augenblick und war sich nicht sicher, ob er es
getan hätte, aber der Schuss einer Schrotflinte beendete seine
Entscheidungsfindung.
    Er ließ Margit los und drehte sich nach dem Schützen in
Gummistiefeln und Jägerkluft um, der neben dem umgekippten Traktor auf die
beiden Balgenden hinabblickte. Er legte ein weiteres Mal an und zielte an
Killian vorbei auf zwei Krähen, die sich an den wenigen genießbaren Trauben
schadlos halten wollten. Der Schuss krachte, das Federvieh wirbelte
durchlöchert von der Schrotladung durch die Luft und verschwand stumm zwischen
den Weinzilden. Der Schütze kippte die Flinte und lud nach.
    »Komm her, Margit!«, dröhnte er vom Weg herab.
    Killian kannte den Bass. Er gehörte dem alten Herbert Brenn. Oft
genug waren sie vor der Stimme geflohen, wenn sie sich als Kinder im Weinberg
Trauben stibitzt oder sich im fortgeschrittenen Alter aus Brenns reichhaltigem
Lager ein paar Flaschen Spätburgunder genehmigt hatten. Brenn hatte allerdings
nicht nur über seine Trauben mit Argusaugen gewacht, auch seinen beiden
Töchtern durfte niemand unerlaubt zu nahe kommen.
    Margit hatte sich von Killian gelöst und war zu ihrem Vater auf den
Feldweg gestiegen. Killian sah, dass sie miteinander redeten, verstand aber
nicht, was sie sagten. Brenn winkte ihn mit der Schrotflinte zu sich.
    Killian überlegte kurz. Er traute dem Alten durchaus zu, dass er ihm
eine Ladung Schrot in den Bauch jagte, um ihn dann, nachdem er ihn durch den
Schredder gedreht hatte, im kommenden Frühjahr als organischen Dünger zu
verwerten. Er blickte sich nach hinten um. Es waren nur wenige Meter bis zum
nächsten Abhang. Drei Schritte Anlauf und ein Hechtsprung, dann wäre er außer
Reichweite. So hatten sie es immer gemacht, und nie waren sie geschnappt
worden. Aber Killian war keine fünfzehn mehr, und er fürchtete sich auch nicht
mehr vor dem alten Brenn. Dazu hatte er schon vor zu vielen anderen
Waffenmündungen gestanden, die weitaus entschlossener drohten.
    Außerdem war er neugierig, was aus der roten Zora geworden war,
seiner großen Liebe, bevor er Bärbel begegnet war. Allerdings war es immer eine
heimliche Liebe gewesen, die sich dadurch ausdrückte, dass man sich mit seinen
Banden bis aufs Messer bekämpfte. Eine seltsame Art der Liebesbekundung, aber
weder Killian noch Margit waren imstande gewesen, ihre Gefühle anders zu
zeigen.
    Killian stieg zu Margit und Herbert empor. Der Alte senkte die
Schrotflinte und musterte Killian durch seine Brille.
    »Killian, der alte Hühnerdieb!«, lachte er plötzlich, was nicht nur
Killian, sondern offenbar auch Margit überraschte. »Ich mochte dich immer, aber
du warsch halt ä Plaschtiker«, fiel er vom bemühten Hochdeutsch in den Dialekt.
»Du warsch dä Einzige, den ich nie erwischt hab … und auch der Einzige …«, er
blickte zu Margit, nickte stumm, als würde er die Worte, die ihm auf den Lippen
lagen, wieder hinunterschlucken, und wiederholte: »… der Einzige … hab ich
recht, Margit?«
    Margit blitzte ihn an. Was wusste ihr Vater schon? Liebe gab es für
ihn wie für alle »Aborigines« nur zwischen unterschiedlichen Geschlechtern.
Schwule und Lesben tauchten offiziell in den Weinbergen nicht auf, und wenn,
dann wurden sie gleichgesetzt mit Mehltau und Milben, und dagegen gab es
Pestizide. Um nicht als krank zu gelten, wurde man eben zur alten Jungfer oder
zum ewigen Junggesellen. Margit haftete bislang noch das Etikett der
ungezähmten Widerspenstigen an. Noch ein paar Jahre durfte sie sich unter
diesem Mantel verstecken; wenn sie dann allerdings keinen Passenden

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