Roter Regen
gefunden
hätte, würde auch sie dem Orden der alten Jungfern beitreten müssen. Es sei
denn, sie würde die Gegend verlassen und sich in die Stadt begeben. Aber sie
liebte die Weinberge, den Duft der gestampften frischen Trauben, den
Morgennebel über den Feldern. Sie würde ewig die kratzbürstige rote Katze
bleiben, mit der einzigen Hoffnung, nicht zu verbittern.
Sie mochte Killian, sehr sogar. Und für eine kurze Zeit hatte sie
sogar gedacht, er sei der Passende. Aber dann war ihr bewusst geworden, dass es
nicht Killians Männlichkeit war, die sie anzog, sondern dessen eigene
Krankheit. Auch er war anders. Er war offen für die Welt, war ungebunden, besaß
keine Scholle, der er untertan war. Er strahlte die Freiheit aus, jederzeit und
an jedem Ort der Welt sein Glück machen zu können. Und er löste diese
Behauptung auch ein. Er ging, verschwand, man hörte von ihm, dann verschwand er
wieder. Margit hatte immer das Herz geklopft, wenn sie etwas über ihn gelesen
oder gesehen hatte, war stolz und wütend zugleich auf ihn gewesen. Stolz
darauf, dass er sie nicht belogen hatte und der Freibeuter geblieben war, den
sie in ihm entdeckt hatte. Wütend, weil er sie zurückgelassen hatte, weil er
das Leben lebte, das ihr ebenso zugestanden hätte.
»Du kommst wie bestellt. Ich brauche einen Fotografen!«, brummte
Herbert Brenn und bemühte sich, wieder Hochdeutsch zu sprechen. »Jemand, der
den ganzen Schaden dokumentiert, den dieser verdammte Regen angerichtet hat …
Hast du Interesse?«
Killian glaubte, sich verhört zu haben. Ein Jobangebot vom alten
Erzfeind? Hatten sich die Zeiten tatsächlich so verändert? Auch Margit schien
ihren Ohren nicht zu trauen.
»Du bist Kriegsfotograf, oder? Schau dir das doch an. Das ist alles
nur noch ein einziges Schlachtfeld.« Brenn deutete mit dem Gewehrlauf über die
zerklüfteten Terrassen. »Wie ein wundes Tier …«, brummte er, und in seiner
Stimme bröckelte eine Krume Bewegtheit.
Killians Blick folgte dem doppelläufigen Zeigestock, und er fühlte
sich plötzlich zu Hause. Er wusste nicht, ob es das Heimatgefühl der Scholle
war oder einfach nur das bekannte Gefühl, zerstörte Welt zu sehen. Er drehte
sich zu Margit und blickte ihr in die lauernden grünen Augen: Der vertraute
Feind hoffte auf eine Zusage. Dann wandte er sich zu Herbert Brenn, schürzte
die Lippen und nickte stumm.
Der Pakt war besiegelt.
»Morgen früh um acht auf dem Hof, da besprechen wir den Rest. Komm,
Margit.«
Die rote Zora folgte dem knarzenden Befehlston ihres Vaters, so wie
sie es immer getan hatte, obwohl sie gerne noch bei Killian geblieben wäre.
Aber sie würden Zeit finden, um einmal miteinander zu reden, wie sie es sich
beide schon immer heimlich gewünscht hatten, da war sich Margit sicher.
Herbert Brenn und Margit stiegen in einen schwarzen Cherokee mit
getönten Scheiben. Jetzt war Killian klar, wer den Feuerwehrmann heute in der
Früh zu überzeugen gewusst hatte, ihn durch die gesperrte Bruckmühlenstraße
fahren zu lassen.
* * *
Belledin kramte das letzte Salbeibonbon aus der Schachtel, wickelte
es aus dem Papier und warf es sich in den entzündeten Rachen. Die Feuchtigkeit
der letzten Wochen hatte ihm zugesetzt. Biggi hatte ihm geraten, mit Salzwasser
zu gurgeln, oder noch besser: mit Urin! Das hätte ihr der Heilpraktiker bei
ihrer letzten Angina empfohlen. Aber bis zur eitrigen Angina war es noch weit.
So arg konnten die Streptokokken Belledins Mandeln gar nicht zusetzen, dass er
mit Urin gurgeln würde. Er schüttelte hüstelnd den Kopf bei dem Gedanken, dass
es Menschen gab, die sich mit solchen Ratschlägen ein Häuschen in der Toskana
verdienten.
Eine Gestalt, die in verdreckten Joggingklamotten durch das
Restwasser der Bruckmühlenstraße hüpfte, gab Belledin Gelegenheit, seine
Gedankenmühle zu verlassen. Er zerknüllte das Bonbonpapier und steckte es in
die Jackentasche.
Killian wusste, dass Belledin wegen der Kladde gekommen war, und er
gedachte, sie ihm so beiläufig wie möglich zurückzugeben, sodass Belledin gar
nicht auf die Idee kommen konnte, er habe einen Blick hineingeworfen. Er nahm
Anlauf und sprang mit einem Satz auf die Rampe vor seinem Atelier, öffnete das
Schiebetor der alten Lagerhalle und bat Belledin mit den Worten »Einen Kaffee?«
hinein.
Belledin stieg die Stufen der Rampe empor und folgte Killian stumm
ins Atelier. Er wollte nicht zu viel reden, wegen seines Halses.
»Ich dusche schnell, dann bin ich wieder da. Die Kladde liegt
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