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Roter Regen

Titel: Roter Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moritz
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schweifte über die Wände des kleinen Aufenthaltsraums der
Praxis. Er hatte die Fotos schon häufiger angesehen, sich aber nie die Mühe
gemacht, sie genauer zu betrachten. Auf den ersten Blick hatte er die
abgelichteten Objekte für Mineralien und Bergkristalle gehalten – jetzt erst
begriff er, dass es sich um mikroskopisch vergrößerte Wasserkristalle handelte.
Jedes Foto trug einen Titel: »Quelle Großglockner«, »Donauwelten«, »Gletscher-Nektar«,
aber auch »Feng-Shui-Herzpunkt«; alle Kristalle hatten faszinierende Strukturen
und Muster. Lediglich das Foto mit dem Titel »Leitungswasser« blickte Belledin
recht leblos entgegen. Und ein Bild fehlte, war aus dem Rahmen getrennt worden.
Nur der Titel hing noch darunter: »Roter Regen«. Wieso war das Bild
verschwunden? Seit wann war es verschwunden? Hatte es bereits vor Hartmanns Tod
nicht mehr dort gehangen? Oder war es erst im Nachhinein entfernt worden?
    Belledin wurde unruhig, griff nach seinem Handy und rief im Büro an.
Er brauchte die Tatortfotos, die die Spurensicherung gemacht hatte.
    Wagner war noch nicht auf dem Revier, dafür erreichte er Irene
Spitznagel, die Leiterin der Spurensicherung. Keine zwei Minuten später hatte
er die Fotos des Aufenthaltsraums auf seinem Handy. So konservativ er auch sein
mochte, diese technischen Spielereien gefielen ihm, gaben ihm für Momente das
Gefühl, zur elitären Gruppe der 00-Agenten zu gehören. Er klickte sich durch
die Bilder. Spitznagel hatte tatsächlich nicht nur die Totale des
Aufenthaltsraums geknipst, sondern auch die einzelnen Wasserkristallfotos. Und
auch hier fehlte »Roter Regen«.
    Vielleicht verrannte sich Belledin, aber der Titel des Bildes hatte
eine so gewalttätige Anmutung, dass das fehlende Foto einfach etwas mit dem
Mord an Hartmann zu tun haben musste. Belledin wusste, wie fatal es sein
konnte, sich auf intuitive Spuren zu stürzen, aber er wagte es dennoch. Auch
deshalb, weil ihm nichts Besseres einfiel.
    Nach Wagners Theorie war der Mörder ein Winzer, der dem Quacksalber
und Regenmacher die Schuld an der diesjährigen Missernte zuschob. Das klang
abwegig und naiv, aber es war nicht ausgeschlossen. Belledin hatte schon einige
abstruse Fälle erlebt, und er wusste, wie viele Menschen ihr Geld zu einem
Schamanen trugen, nur weil sie sich dadurch Erleuchtung versprachen. Und die
Mordwaffe war ein Okuliermesser. Wer außer den Bauern benutzte so etwas?
    Aber was war mit Christa Faller? Warum musste sie sterben? Sie war
Hartmanns Assistentin und hatte also ebenso viel Schuld an dem Schaden wie
Hartmann selbst? Oder hatte sie gewusst, wer Hartmanns Mörder war, und musste
deswegen sterben?
    Belledin schüttelte unzufrieden seinen fleischigen Kopf. Sicher,
Hexenjagden wurden schon aus ganz anderen Gründen veranstaltet, aber wäre einer
der Winzer tatsächlich imstande, aus den genannten Motiven einen Mord zu
begehen, womöglich sogar zwei? Wer glaubte denn wirklich daran, dass jemand
Regen machen konnte? Und dazu noch über sieben Wochen? Zwar war man hier auf dem
Land, aber dennoch nicht hinter dem Mond. Und doch: Hatte nicht schon Stalin
Düsenjäger in den Himmel geschickt, um Wolken zu zerschießen, ehe sie die
Maiparade verdunkeln konnten? Heilte man nicht allerorten mit
Milchzuckerkügelchen Krankheiten?
    Belledin war nicht zufrieden mit der Theorie, aber er konnte sie
auch nicht so einfach verwerfen. Die einzige Alternative, die er aufzuweisen
hatte, war ein Eifersuchtsdrama. Er zückte seinen Notizblock und las darin die
Namen der Frauen, die er auf Hartmanns Beerdigung gesehen hatte. Da waren die
Damen Jenne, Bühler und Kanzinger. Allesamt Winzerfrauen. Sie hatten sich
beerdigungskonform verhalten, waren ihm nicht sonderlich aufgefallen; aber er
hatte sie notiert. Und vielleicht konnten sie ihn auch in Wagners Theorie
weiterbringen?
    An die dritte Möglichkeit wollte Belledin gar nicht denken. Er
konnte und wollte es sich nicht vorstellen, dass Hartmann Opfer spekulierender
Geheimdienste geworden war. Das konnte aber theoretisch der Fall sein, wenn
Hartmanns Regenmaschine tatsächlich etwas taugte. Aber wo war die Maschine? Gab
es sie überhaupt? Oder existierten lediglich die Pläne dafür? Und was waren
diese Pläne wert? Taugten sie wirklich etwas oder waren sie nur Ausgeburten des
Hirns eines Spinners?
    * * *
    Der Hof war praktisch angelegt. Für Ästhetik hatte Herbert Brenn
keinen Sinn. Er war Materialist, und sein Anwesen spiegelte dies wider. Teure
Maschinen,

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