Roter Regen
ihr Handschlag und genauso zart wie ihre Handgelenke. War
es Erleichterung oder Wehmut, die Killian in diesem Moment empfand? Was wäre
gewesen, wenn sie damals keine Feinde gewesen wären? Hätte Margit es geschafft,
ihm die Liebe zum Vulkangestein zu vermitteln? Wäre er hiergeblieben?
Margit löste den Handschlag auf und fragte: »Schon gefrühstückt?« Es
lag mehr in der Frage als eine Höflichkeitsfloskel. Ihr einstiger erbittertster
Feind war hier, um die klaffenden Wunden des Weinbergs zu dokumentieren. Der
einzige Mensch, der auch um ihre Verletzung wusste. Er war es gewesen, der
Margit vor fünfundzwanzig Jahren mit Ivona zwischen den Himbeeren nackt und eng
umschlungen hatte liegen sehen.
Und nun blickten sie sich wieder an. Sie hätten sich viel zu
erzählen, aber sie würden weiterhin schweigen. Nur in ihren Augen würden sich
ihre Seelen treffen und hin und wieder den Freund im anderen suchen, den es
offiziell nie gegeben hatte.
»Ein frisches Holzofenbrot von Mutter Brenn wäre eine feine Sache«,
lächelte Killian.
»Mutter Brenn ist seit über zehn Jahren tot«, erwiderte Margit
sachlich. Sie war froh, dass sie ein Thema hatten und nicht schweigen mussten.
Im Reden konnte man sich noch immer am besten von Abgründen entfernen, auch
wenn man über den Tod der eigenen Mutter sprach. »Es war dann doch der Krebs.
Den Selbstmord hatte sie ja häufiger angedroht. Aber noch nicht einmal der war
ihr vergönnt.« Bitterkeit mischte sich ungewollt in ihre Stimme. Sie hatte ihre
Mutter Renate geliebt, obwohl sie nach Silkes Geburt nur noch deutlich Obst zweiter
Wahl gewesen war. Margit war bereits fünfzehn gewesen, als Silke zur Welt kam.
Ein beschissenes Alter für ein Mädchen, das entdeckt, dass es anders ist.
Margit hätte eine verständnisvolle Mutter gebraucht, aber Renate hatte nur noch
Augen und Ohren für die künftige Weinkönigin.
In dieser Zeit war sie zur roten Zora geworden, hatte sich mit List
und brutaler Zähigkeit zur Führerin einer fünfköpfigen Bande aufgeschwungen,
die sich erst zu den Rangers der Weinberge erklärte, um sich später dann mit
kleineren Diebstählen Adrenalin in den Kreislauf zu pumpen.
»Mein Brot ist aber auch nicht schlecht, vielleicht etwas trocken«,
scherzte Margit, ohne es dabei auf einen Lacher anzulegen. Plötzlich wurde sie
von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Killian besorgt.
»Alles bestens«, sagte Margit heiser. »Der Regen war einfach zu
lang. Nicht nur die veredelten Reben, auch die wilden haben darunter gelitten«,
sagte sie sarkastisch und spuckte den angesammelten Schleim aus.
* * *
Feruggio pustete die Backen auf und schüttelte verzweifelt sein
lockiges Haar. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand durch den Schopf und
blickte Silke gespielt streng in die Augen: »Du musst lachen, sonst wird das
nichts. Du bist Weinkönigin, stehst kurz vor der Hochzeit – gibt es etwas
Schöneres?«
Er zog die Brauen hoch, so weit er konnte, und grinste sein Opfer
dabei so verkrampft an, wie es Silke sonst nur von schlechten Clowns aus
Wanderzirkussen kannte. Aber sie schaffte es, Feruggio mit seiner affigen Grimasse
zu ignorieren; Silke blickte mit Leichtigkeit durch diesen Hohlkopf hindurch.
Claudio Feruggio galt zwar nicht als der feinsinnigste Fotograf in
der Gegend, aber zu ihm ging man dennoch, wenn man Hochzeiten, Kommunionen oder
runde Geburtstage bunt ins Bild gesetzt bekommen wollte. Und Weinköniginnen
fotografierte er bereits in der zweiten Generation. Schon sein Vater, der sich
als junger Mann von Mailand an den Kaiserstuhl aufgemacht hatte, weil er sich
am Lago Maggiore Ende der sechziger Jahre unsterblich in eine Badenerin
verliebt hatte, hatte sich auf das Geschäft mit der Lokalprominenz verlegt. Mit
seinem gepunkteten Seidenschal und dem italienischen Akzent hatte er in
Breisach und den umliegenden Dörfern den Hauch des Mondänen versprüht, den er geschickt
in Münze umzusetzen verstanden hatte.
Claudio hatte seine Tricks, um Grobporigen die Haut zu glätten,
Falten weich zu zeichnen und Dicke dünner wirken zu lassen. Aber wenn eine
blutjunge Braut mit einem Mal die Witwe gab, da waren selbst alle Feruggios der
Welt machtlos. Ein Trauerkloß sah nun mal aus wie ein Trauerkloß, da war nichts
zu machen. Er zuckte mit den Schultern und gab auf.
»Komm wieder, wenn du dich ausgeheult hast.«
Claudio durfte sich diesen Ton leisten, er hatte mit Silke Abitur gemacht.
Außerdem hatten sie auf
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