Roter Regen
einer Klassenfahrt auch mal miteinander geknutscht.
Mehr war aber nicht gewesen. Silke war auch in diesen Dingen zickig. Und
irgendwie hatte er es ihr nie verziehen, dass es nur beim Knutschen geblieben
war. Dass sie jetzt wieder so herumzickte, machte ihn wütend. Das Foto sollte
in den Einladungsfolder, der die Hochzeit des Traumpaares Brenn & Zimmerlin
vorankündigen sollte. Es würde schon schwierig genug sein, den farblosen
Bräutigam aufzupeppen, da könnte ihm die schöne Silke doch wenigstens
entgegenkommen.
Silke stieg von dem Hocker, auf dem sie für das Foto Stellung
bezogen hatte, und riss sich die Krone vom Kopf, die sie als Weinkönigin zu
tragen hatte. »Entschuldige, Claudio, es tut mir leid. Aber ich kann einfach
nicht.«
»Es ist kein Einziges dabei, das ich deinem Vater guten Gewissens
zeigen kann«, schmollte er. »Auf jedem siehst du aus wie ein aufgeblasener
Frosch.«
»Ist doch kein Wunder nach dem Regen, oder?«
Silke wunderte sich über sich selbst. Ihr war tatsächlich ein Scherz
über die Lippen gekommen. Sie wusste nicht, ob sie darüber lachen oder weinen
sollte. Schon der Anflug eines Lächelns erinnerte sie daran, wie glücklich sie
noch vor einer Woche gewesen war. Und die Erinnerung an ihr verlorenes Glück
trieb ihr wieder die Tränen in die geröteten Augen. Aber sie beherrschte sich.
Sie wollte nicht schon wieder zusammenbrechen, wie tags zuvor auf dem Friedhof.
Die Leute tuschelten schon. Hartmann war schließlich kein Verwandter gewesen,
noch nicht einmal jemand, der im Dorf aufgewachsen war – sondern ein einfacher
Heilpraktiker, der gerade einmal zwei Jahre in Bötzingen praktiziert hatte.
Freilich kursierten Gerüchte. Aber viele Frauen hielten sich zurück,
weil sie selbst dem Charme Hartmanns erlegen waren. Und wenn sie schon nicht
mit ihm ins Bett gegangen waren, so hatten sie doch wenigstens den einen oder
anderen Sparstrumpf zu ihm getragen, um ihn bei seinem Projekt »Regen für alle«
zu unterstützen. Noch würden sie mit ihrer eigenen Trauer und Scham kämpfen und
darauf hoffen, dass ihre Ehemänner sie nicht nach dem Verbleib einer gewissen
Summe fragen würden. Denn mit Hartmann waren auch die Investitionen begraben
worden. Er hatte ihnen allen versprochen, schon im nächsten Jahr die
investierte Summe mit einer Rendite von fünfzig Prozent zurückzuzahlen. Und
warum hätte man einem Mann wie ihm misstrauen sollen? Hatte er nicht ohnehin
alles von seinen Patientinnen gewusst? Er, der so viel Verständnis gezeigt
hatte für all die Sorgen des Alltags und psychischen Lasten, die die geplagte
Hausfrau, Mutter, Gattin und Berufstätige auszuhalten hatte? Mit Hartmann waren
sie barfuß über glühende Kohlen gelaufen. Er hatte ihnen zugehört mit der
Geduld einer hundertjährigen Schildkröte. Wo sich ihre Ehemänner bereits
dreimal umgedreht hatten, da hatte Hartmann nochmals aufmerksam nachgefragt und
sich Notizen gemacht.
Innerhalb von zwei Jahren hatte er sich nicht nur bei Silke, sondern
auch bei einem Großteil der weiblichen Bevölkerung im Umkreis unabkömmlich
gemacht. Man ging zu Hartmann wie zum Friseur, man musste noch nicht einmal
krank sein, man wurde es auf dem Weg zu ihm. Er tat ihnen einfach gut, egal,
was er tat. Und dafür zahlten sie gerne. Silke hätte ihm ihr letztes Hemd
gegeben. Sie hatte das Gefühl, sie würde in sich selbst investieren, als sie
ihr Geld zu Hartmann trug. Und indem man die gesamte Welt auch noch mit Wasser
unterstützte, tat man obendrein noch etwas für andere – das erfüllte das eigene
Dasein mit Wert. Doch nun war er tot und hinterließ eine Lücke, deren Größe gar
nicht zu ermessen war.
Für Silke bedeutete sein Tod aber noch mehr. Sie stürzte vom Olymp
der schönsten Weinkönigin, die der Kaiserstuhl jemals aufzubieten hatte, hinab
in den Benzinfilm der Gossenpfützen. Sie war zur realen Figur eines
Groschenromans geworden.
Im Mai noch, als die pompöse Verlobung mit Andreas gefeiert worden
war, hatten die achthundert Gäste keinen Zweifel daran gehabt, dass hier die
Grace Kelly des Kaiserstuhls Hof hielt. Ihr schmucker Fürst in spe lispelte
zwar und war daher nicht gerade der brillante Rhetoriker, aber Silke würde
schon dafür sorgen, dass er nicht zu oft das Wort hatte. Sie überstrahlte alle,
auch weil sie wusste, dass es ihre Bestimmung war, den hiesigen Weinadel von
der Folklore weg hin zu echtem Glanz und wahrer Würde zu erheben. Silke war
dazu bestimmt, die harte Knochenarbeit, die dem Winzertum
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