Roter Regen
auf dem kleinen Hof hören. Und nicht nur er, auch die
Nachbarn in Eichstetten vertrauten eher Helgas Stimme als dem Vieruhrläuten des
Kirchturms. Wenn sie zum Nachmittagskaffee rief, dann war es auch an der Zeit.
»Als ob ich’s groche hätt. Dä Belledin! Zum Glück hab ich grad ä
Nussschokoladekuche im Backofe. Der isch glie fertig. Wo isch d’ Biggi? Häsch
sie nit mitbrocht? Isch sie krank?«
Belledin stieg vor Bühler die Holztreppe zu Helga empor und streckte
auch ihr die Hand zum Gruß entgegen. Was zuvor ölverschmiert in Belledins
Handfläche glitt, klatschte nun mit Mehlstaub an seine Finger. Auch dieser
Händedruck war ein glattes Unentschieden. Wo Leute anpackten, bekam man keine
toten Fische zum Gruß.
»Ich geh gschwind un hol zwei, drei Fläschle ussm Keller«, zwinkerte
Bühler und machte auf halber Treppe kehrt.
Helga streckte ihre klobige Nase in die Luft und schnupperte. Dann
schlug sie mit den Händen gegen die Schürze, dass das Mehl staubte, und eilte
in die Küche. »Der isch fertig.«
Belledin stand nun allein auf dem Treppenabsatz und blickte auf den
Hof hinunter. Flauheit stieg in ihm auf. Es war, als blickte er in den Hof
seiner Kindheit. Der alte Traktor mit der offen stehenden Motorhaube, der
rastlose Schäferhund in seinem Zwinger, hartgetretener Lehmboden statt
Pflasterstein, das geschichtete Brennholz unter der Scheune und der geflickte
Stiel der Axt, die tief in den Hackklotz gerammt war: ein Stillleben aus
vergangenen Tagen. Und dann der niedrige Eingang in den Weinkeller, an dem er
sich, seit er fünfzehn gewesen war, regelmäßig den Kopf angeschlagen hatte.
Diese schmerzhafte Kopfnuss war ihm das mahnende Zeichen gewesen, dass er aus
dem Leben seiner Eltern herausgewachsen war.
Belledin überkam Wehmut, als er Bühler mit drei Flaschen Wein aus
dem Gewölbe zurückkommen sah. Er schlug sich nicht den Kopf, sondern pfiff die
Melodie des Liedes, das sie zuvor gemeinsam angestimmt hatten. Die Welt schien
hier noch in Ordnung, jedenfalls wünschte es sich Belledin. Irgendwo musste sie
doch noch in Ordnung sein. Aber seine langjährige Erfahrung, die ihn in allerlei
menschliche Abgründe hatte blicken lassen, spottete sogleich über seine naive
Sehnsucht. Ausgerechnet hinter den wurmstichigen Hoftoren des Kaiserstuhls
sollte die heile Welt liegen? Belledin wusste es besser, er hatte sich nicht
umsonst den Kopf gestoßen.
»Ohne Designer-Etikett, aber dafür vom Feinschten. Ein ehrlicher
Wein«, pries Bühler seine Flaschen an und hielt sie beim Treppaufgehen so in
die Höhe, dass sich das Licht der Nachmittagssonne im grünen Flaschenglas
brach.
Belledin ließ Bühler an sich vorüber und blinzelte in die Sonne, die
jetzt dem Hof ihre Aufwartung machte, als würde sie ihn zum Verkauf
ausleuchten. Auch in Belledins Heimathof war sie am Nachmittag immer noch
einmal eingefallen. Es waren die schönsten zwei Stunden des Tages gewesen. Und
Belledin hatte sich gerne mit frisch gebackenem Kuchen und einer Tasse heißer
Schokolade auf den Scheunenboden zurückgezogen, um durch die lichten Stellen
der Bretterwand die Sonnenstrahlen auf seine Sherlock-Holmes-Sammelausgabe
fallen zu lassen. Diese zwei Stunden gebündelten Lichts beamten ihn in die
Welt, in die er wollte. Aber wehe, wenn es regnete. Da schien es ihm, als
wollten die Wolken ihm seine Grenzen aufzeigen, ihm diktieren, wohin er
gehörte. Und auch jetzt hoffte er, dass die Sonne blieb, dass sich keine Wolken
bildeten, es nicht anfing zu regnen. Er wäre imstande gewesen, den
Verantwortlichen aufzuspüren und ihm eigenhändig die Gurgel umzudrehen.
Belledin erschrak bei dem lapidar hingeworfenen Gedanken. Gedanken konnten zur
Tat werden, und das manchmal sogar ehe sie gedacht wurden.
Und deswegen war er hier. Wer hatte es gedacht und auch umgesetzt?
Bühler?
»Was isch, willsch Wurzle schlage? Do musch in Südlage, denn häsch
meh dävu«, scherzte Bühler, der Belledin ein gefülltes Glas Wein reichte.
Belledin wusste, was jetzt zu machen war, und er nahm den ersten
Schluck, um ihn so im Mund zu spülen, wie es hier Sitte war. Für einen Moment
dachte er daran, wie er auf dem Revier auf Anraten von Anke Prückner das
Leitungswasser auf dieselbe Art gekostet hatte. Aber es war besser, jetzt nicht
an Anke zu denken. Er hatte hier unbequeme Fragen zu stellen, und er wusste,
dass er sich schwer tun würde, um endlich damit herauszurücken.
* * *
Bärbel hatte den Hörer noch in der Hand und überlegte, ob sie
Swintha
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