Roter Regen
anrufen sollte, um sich bei ihr zu entschuldigen. Aber die würde
ohnehin nicht abnehmen. So sehr sich Bärbel auch über ihren Anruf gefreut
hatte, so schnell war sie doch wieder in ihre gewohnte Mutterrolle gefallen und
hatte begonnen, Swintha die Welt zu erklären. Als sie dann auch noch erfuhr,
dass Swintha mit einem Schauspieler zusammen war, der gerade zwischen zwei
Engagements lebte, war ihr Mutterinstinkt wieder grenzenlos geworden.
Man konnte einer jungen Frau die erste große Liebe nicht ausreden,
das wusste Bärbel selbst am besten. Aber der arbeitslose Mime war immerhin zehn
Jahre älter als ihre Tochter und sicherlich ein Schuft, der an jedem Finger
fünf naive Backfische hatte, denen er in Aussicht stellte, sie bald mit nach
Hollywood zu nehmen, weil Quentin Tarantino auf ihn aufmerksam geworden sei.
Und irgendwann würde er dann seinen Anteil an der gemeinsamen Miete nicht mehr
zahlen können, weil er all sein Geld bei wichtigen Gesprächen in Caffè Latte und teuren Rotwein umgesetzt hatte.
Und wie schnell man von so einem Typen schwanger werden konnte, daran wollte
Bärbel erst gar nicht denken. Wenn sie es wenigstens nur gedacht hätte; aber
sie hatte es auch aussprechen müssen. Kein Wunder, dass Swintha grußlos
aufgelegt hatte.
Bärbel fühlte sich elend. Wollte denn gar nichts mehr in ihrem Leben
klappen? Musste sie immer mit allen im Clinch liegen? Dabei meinte sie es doch
immer nur gut. Aber ihre Ängste waren eben größer als ihre Vernunft, ihre
Gefühle stärker als das nüchterne Argument. Sie befand sich auf ständigem
Kriegspfad. Ihr Misstrauen war so groß, dass sie noch nicht einmal mehr einem
Spiegel traute. Und in den starrte sie eben, noch immer das Telefon haltend.
Bärbel schüttelte verdrossen ihr rotes Haupt, lächelte sich selbst
bitter zu und wusste, dass sie durch den Blick in den Spiegel nicht
Objektivität gewann, sondern ihr nur die eigene Fremdheit deutlicher wurde.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und setzte das Telefon wieder in die
Station im Büchersalon. Ihr Blick fiel auf das Foto mit dem Kristall. Sie nahm
es erneut in die Hand und dachte an Hartmann. Hatte er ihr wirklich zugehört?
Oder hatte auch er nur geheuchelt, weil er etwas anderes von ihr wollte? Warum
hatte er ihr dieses Foto mit den seltsamen Zahlenreihen auf der Rückseite ins
Buch gesteckt? Hatte es vielleicht etwas mit seinem Tod zu tun? Wenn Killian
nicht so ein Idiot wäre, würde sie ihn jetzt anrufen. Aber es konnte doch nicht
angehen, dass dieser bornierte Schnösel der einzige Mensch war, an den sie sich
in ihrem Elend wenden konnte?
Immerhin könnte sie ihn damit ärgern, dass Swintha angerufen hatte.
Aber vielleicht hatte Swintha direkt Killian angerufen, nachdem sie verärgert
aufgelegt hatte, und Killian hatte auf verständnisvollen Tröster gemacht?
Bärbel merkte, wie es erneut in ihr zu kochen begann. Nein, das brauchte sie
jetzt gar nicht. Killian würde sie auf keinen Fall anrufen. Dafür wählte sie
Belledins Nummer. Schließlich war der gelernter Polizist und kein hybrider
Dilettant!
* * *
Bühlers Reichtum an geselligem Liedgut schien noch größer als sein
Weinkeller zu sein. Belledin bekam keinen Ton mehr raus, aber Bühler setzte
bereits zu einem weiteren Gassenhauer an und hob das gefüllte Weinglas in
Belledins Richtung, während Helga ihm das dritte Kuchenstück auf den Teller
schaufelte.
Das Läuten des Handys biss sich musikalisch mit Bühlers gepresstem
Tenor, der eigentlich nur ein Bariton war.
Belledin ergriff die Gelegenheit und nahm den Anruf entgegen. Er
zuckte entschuldigend mit den Schultern: »Im Dienscht.«
Bühler nickte verständnisvoll und füllte Belledin ungefragt das
leere Weinglas. Da nutzte es wenig, dass Belledin mit der Hand abzuwehren
versuchte.
Er lauschte, zog die Brauen hoch, dann sagte er: »Interessant« und
»Ich komme in einer Stunde vorbei und hol es mir ab«, dann legte er auf.
Belledin schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren, und
schoss dann endlich die Frage heraus, um die ihn die sentimentale Folklore, die
für die Bühlers authentischer Alltag war, die ganze Zeit gebracht hatte.
»Was wisst ihr eigentlich über den Hartmann?« Der hochdeutsche Ton
mit der badischen Melodie brach die heimatliche Stimmung. Die Bühlers horchten
auf. Helga hielt sich am Kuchenteller fest, und Bühler stellte sein Weinglas so
vorsichtig auf dem Tisch ab, als wäre es mit Nitroglycerin gefüllt. Schweigen.
»Ich habe doch gesagt, ich bin im
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