Roter Regen
beiden.
»Durchsucht das Haus, vielleicht finden wir seine Tochter auch noch.
Und ruft einen Leichenwagen«, befahl Belledin von der Leiter herab. Die Beamten
entfernten sich.
»Er ist in dem Augenblick gesprungen, als wir zur Scheune
reingekommen sind, genau in dem Augenblick!«, stammelte Wagner. »Genau in dem
Augenblick, des gibt’s doch nit … Isch des Zufall oder Bestimmung?«, fragte er
und blickte Belledin mit großen, leicht versoffenen Kinderaugen an. »Der Job
macht mich fertig. Weisch was, ich kündige. Ich brich mir keine meh ab.«
Ohne ein weiteres Wort trottete Wagner davon, an den Fahrzeugen
vorbei, in die Reben. Belledin sah ihm kopfschüttelnd nach, dachte einen
Augenblick daran, ihn zurückzurufen, ließ es dann aber sein. Er hatte einen
Fall zu lösen und war nicht Wagners Therapeut. Noch nicht einmal sein Freund.
Trotzdem hatte er eine gewisse Verantwortung für ihn, schließlich war er sein
Vorgesetzter. Aber wofür sollte er denn noch alles die Verantwortung tragen?
War er Atlas, der die Welt auf seine Schultern wuchtete?
Belledin ließ Wagner, er war sich sicher, dass er nur eine kurze
Verschnaufpause benötigte. An Belledin prallte ein Selbstmörder auch nicht
einfach so ab. Aber wenn man seinen Job zu machen hatte, durfte man nicht mit
jedem Toten mitfühlen, wo käme man da hin?
Belledin stieg die Sprossen der Leiter hinab und blickte auf den
toten Brenn; dabei erinnerte er sich an seinen Onkel, der sich auch am First
des Scheunentores erhängt hatte. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. Er hatte
Brenn damals für ein Butterbrot seine Scheurebstöcke abgeben müssen, weil er
ihm ein Privatdarlehen nicht termingerecht hatte zurückzahlen können. Bestimmt
war es nicht die Ursache für seinen Freitod gewesen, aber sicherlich ein
Auslöser. Gab es am Ende doch so etwas wie höhere Gerechtigkeit?
Auch wenn es sie geben sollte, Belledin wollte nicht, dass sie
seinen Job übernahm. Entschlossen steuerte er auf das Wohngebäude zu.
* * *
Das Foto von Anna Popescu ließ Killian keine Ruhe. Wo hatte er diese
Frau schon einmal gesehen?
Erneut klopfte es an der Schiebetür, diesmal aber wesentlich
zaghafter als am frühen Morgen. Killian verließ den Mac und öffnete. Vor ihm
stand ein junges Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, und nagte lächelnd an einem
Kaugummi. Sie trug bauchfrei, damit das Piercing aus dem Nabel blitzen konnte,
das Gesicht war zugekleistert mit dickem Make-up, offensivem Lippenstift und
Wimperntusche, als wäre sie gerade aus dem Ofenrohr gekrochen.
»Hi, ich bin Sandra, d’ Tochter von de Britta.«
Killian versuchte sich zu erinnern: Wer war Britta? Und was wollte
Sandra?
»Mei Mutter hat gsagt, dass Sie von mir Bewerbungsfotos mache
könnte.«
Jetzt dämmerte es. Natürlich. Britta. Die Kellnerin aus der Krone,
der warme Busen vom einstigen DLRG -Sommernachtsfest.
»Hatten wir einen Termin vereinbart?«
»D’ Mutter hät gsagt, am Montag um fünfzehn Uhr.«
»Haben wir es schon so spät?« Killian erschrak. Er hatte über den
Recherchen in den Dossiers die Zeit vergessen. Aber selbst wenn er die Zeit
nicht vergessen gehabt hätte, an den Fototermin mit Sandra hätte er sich
trotzdem nicht erinnert.
»Ja, dann komm rein.« Killian deutete auf den Gästestuhl, um zu
verhindern, dass sich Sandra auf sein Sofa fläzte. Sandra dachte aber gar nicht
daran, sich hinzusetzen, sondern inspizierte wunderfitzig Killians Atelier.
»Schaffsch du hier oder wohnsch du hier?«, wollte sie wissen,
nachdem sie die Arbeitsmaterialien und die Wohngegenstände addiert hatte.
»Beides«, erwiderte Killian knapp. Er stellte eine Leinwand auf, die
er mit zwei Strahlern beschoss, und kümmerte sich dann noch um Frontlicht und
Spitze. »Stell dich hierhin«, kommandierte er. Er wollte die Sache so schnell
wie möglich hinter sich bringen.«
Sandra gehorchte. Killian justierte das Licht noch nach, drehte an
der Belichtungszeit seiner Nikon, stellte scharf und feuerte ab.
»Gut, das war’s.«
»Scho fertig? Des isch jo schneller wie am Automat?« Sandra war
sichtlich überrascht. »Denn könne ma jo noch ä paar Nacktfotos mache«, sagte
sie und zog das kurze Top über den Kopf, sodass zwei blanke Brüste
hervorsprangen. Darauf hatte Killian überhaupt keine Lust. Er tat so, als würde
er die wohlgeformten Äpfel nicht sehen, und verstaute seine Kamera.
Beleidigt zog Sandra ihr Top wieder an und lächelte gequält.
»Schade, mei Freund hätt sich sicherlich gfreut«,
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