Roter Regen
sie
ausgelacht oder ihr direkt ins Gesicht geschlagen. Also hatte Anna begonnen, im
Geiste mit sich selbst zu spielen. Sie hatte kein Brett und keine Figuren dazu
gebraucht, die Vorstellung allein hatte ihr genügt. Da sie sich nicht immer
selbst hatte besiegen wollen, hatte sie sich ihre Gegner einfach ausgedacht und
spezielle Charaktere erfunden: den General, die Professorin, den Kutscher und
die Gräfin.
Der Kutscher war recht einfach zu besiegen, weil er gierig spielte
und nur aufs Fressen der gegnerischen Figuren aus gewesen war. Der General
hingegen trug oft knappe Siege davon, weil er nicht aus der Ruhe zu bringen
war. Die Gräfin war eine sehr emotionale Spielerin, die Anna mit
Ablenkungsmanövern aus der Konzentration brachte, während die Professorin
beinahe unschlagbar war. Mit einem unerschöpflichen Repertoire an gespielten
Partien und der Freude an kreativem Querdenken hatte sie Anna mit immer neuen
Winkelzügen und scheinbaren Dummheiten in die Falle gelockt.
Die Professorin war heute noch Annas Vorbild. Schließlich war sie es
gewesen, die Anna in die Obhut Lupescus gehoben hatte. Damals, in der
abgerissenen Spelunke, die Puff und Treffpunkt der Bukarester Halbwelt gewesen
war, war es die Professorin gewesen, die den jüngeren der beiden Spieler davor
gewarnt hatte, die Dame des anderen nicht mit dem Springer zu fressen, sondern
stattdessen zu rochieren und den Gegner dann in drei Zügen mattzusetzen. Anna
hatte damals nicht gewusst, was sie tat, als sie ihre Gedanken auf das
Spielbrett der fremden Männer geplappert hatte. Sie war erst neun Jahre alt,
wie hätte sie da die politischen Zusammenhänge erfassen können. Und hier, bei
diesem scheinbar harmlosen Schachspiel, war es um Politik gegangen. Die große
Politik Rumäniens wurde in jener Zeit nicht in den korrupten Parlamenten
ausgetragen, sondern in den Hinterzimmern der Spelunken, zwischen den alten
Schergen der Securitate und den neuen Fürsten der rumänischen Mafia.
Und um ebensolche hatte es sich bei den beiden Schachspielern
Dimitri Schwarz und Marcel Lupescu gehandelt. Ihr Einsatz: nicht weniger als
die Herrschaft über den gesamten Opiumhandel, der von Afghanistan in die Länder
der Europäischen Union geschmuggelt wurde.
Mit ihren für Rumänien ungewöhnlichen naturblonden Haaren war sie
Lupescu wie ein Engel erschienen. Und wie es die Verbrecher aus den
christlichen Ländern nun mal so hielten, hatte auch Lupescu gleich einige
Kerzen für die Mutter Gottes angezündet, aus Dankbarkeit für den Engel in Not.
Aber er hatte es nicht damit belassen. Anna war von nun an sozusagen adoptiert.
Lupescu selbst hatte keine Kinder. Jedenfalls keine, zu denen er gestanden
hätte. Es war ihm zu riskant gewesen, Familie zu besitzen. Er wäre dadurch
erpressbar gewesen. Er hatte das Mittel familiärer Erpressung oft genug
angewendet, um zu wissen, wie verwundbar die Menschen an dieser Stelle waren.
Mit Anna als Patenkind konnte er leben. Wenn sie ihm wieder jemand nehmen
wollte, wäre es erneut Gottes Wille gewesen. So wie sie gekommen war, würde sie
auch wieder verschwinden.
Aber sie verschwand nicht, sondern wuchs heran und lernte schneller
als durchschnittliche Kinder. Lupescu schickte sie in die Schweiz auf ein
einschlägiges Internat, auf dem der Sohn des nordkoreanischen Diktators von ihr
in Mathe abschrieb, und bald schon war sie in Cambridge, um sich ihre Lorbeeren
und Akademikergrade abzuholen.
Für Anna war es ein unwirkliches Leben gewesen, das sie gelebt
hatte. Es hatte selten Augenblicke gegeben, in denen sie wirklich sie selbst
war. In ihrer Erinnerung war sie am allerwenigsten das kleine geschändete
Mädchen, jedenfalls redete sie sich das immer wieder ein, wenn die Bilder von
einst in ihr aufstiegen. Sie durfte keinen Groll gegen die Männer hegen, sonst
würde sie zu emotional spielen, wie die Gräfin. Sie durfte auch nicht gierig
sein wie der Kutscher, sondern musste die Kräfte des Generals und der Professorin vereinen, um all ihre Spiele zu gewinnen.
Und das Spiel zu gewinnen, das war ihr Leben. Je komplizierter es war, umso
reizvoller. Hatte sie mit Figuren in ihrer Phantasie begonnen, so erfand sie
nun auch reale Charaktere, die ihr ebenso zu Diensten waren wie die alten
virtuellen Schachgegner. Maria Bava zum Beispiel. Und Anke Prückner.
Es war wichtig gewesen, Margit kurzfristig als Täterin aufs Tablett
zu legen. Als Anke Prückner hatte sie für die Tatzeit des Mordes an Thomas
Hartmann kein lückenloses Alibi. Den
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