Roter Regen
nach ihrem Verfolger um. Am unteren Teil des Hohlwegs sah sie ihn. Auch er
keuchte. Und er fuchtelte mit seiner Pistole. Margit konnte nicht verstehen,
was er schrie, aber sie vermutete die üblichen Phrasen, die Polizisten von sich
gaben, wenn sie jemandem nachsetzten. Doch sie dachte gar nicht daran,
aufzugeben. Diesmal würden sie sie nicht schnappen. Nicht in ihren Weinbergen.
* * *
Anna hielt sich dicht an der Wand. Sie steuerte auf den Warteraum
zu, an dessen Stirnwand die Fotos mit den Wasserkristallen hingen. Aber
anstelle der Fotos prangten dort nun Bilder von ihr selbst. Einmal als
Studentin in Cambridge, dann als Anke Brückner in der Lerngruppe von Hartmanns
Kurs, das dritte zeigte sie als Maria Bava.
Sie schreckte herum, die Pistole im Anschlag. Aber es war niemand
da. Ihr Herz schlug höher. Der Raum hatte zwei Türen. Zu der einen war sie
hereingekommen, die andere führte in Hartmanns Behandlungszimmer.
»Guten Tag, Frau Popescu«, hörte sie plötzlich eine Stimme aus dem
Behandlungszimmer. »Kommen Sie doch rein.«
Anna rechnete kurz: Sollte sie den raschen Rückzug antreten? Aber
was hätte sie dann gewonnen? Ohne die Liste war ein Weiterleben unmöglich. Die
Liste war das Visum in die Freiheit. Außerdem war sie neugierig. Sie wollte
wissen, gegen wen sie spielte.
Vorsichtig näherte sie sich dem Behandlungsraum, sich immer wieder
absichernd, dass von der hinteren Tür her keine Gefahr drohte. Endlich
erreichte sie den Türrahmen und schob sich vorsichtig, die Waffe noch immer im
Anschlag, in den Raum. Es war niemand da.
»Kommen Sie hierher. Setzen Sie sich.«
Die Stimme drang aus einem Laptop, der auf einem Tisch neben der
Behandlungsliege stand. Anna schlich um den Tisch und starrte gebannt auf den
Monitor.
Ein Mann mit kurzem grau melierten Haar lächelte sie freundlich an:
»Schön, Sie kennenzulernen, Frau Popescu. Ich möchte Ihnen gerne ein Geschäft
vorschlagen.«
* * *
Der Streifenwagen preschte über die holprig asphaltierten Wege der
Weinberge. Belledin hatte das Blaulicht ausgeschaltet und versuchte mit Wagner
Kontakt aufzunehmen. Zweimal schon hatte ihn die Computerstimme auf die Mailbox
verwiesen. Diesmal nahm Wagner den Anruf entgegen.
Belledin hörte sein Japsen: »Chef, alleine kriege ich sie nicht …
sie rennt jetzt im Bogen und will vermutlich wieder übers Tiefental in Richtung
Bötzingen …«
»Wagner, bleiben Sie dran, wir schneiden ihr den Weg ab!«
Wagner verstaute das Handy und versuchte sich wieder in Bewegung zu
setzen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Die Knie begannen zu
zittern, ihm wurde schwindlig, die Reben tanzten im Kreis um ihn herum, dann
wurde es dunkel, und er sackte zu Boden.
Margit lief, ohne sich umzusehen. Sie musste in Bewegung bleiben, um
dem Fieber keine Chance zu geben. Nur wenn sie den Organismus auf hoher Flamme
hielt, würde ihr Kreislauf die Krankheit vergessen. Sie war selbst überrascht,
wie viele Reserven noch in ihr steckten.
Von vorn tauchte ein Auto auf. Margit erkannte, dass es sich um
einen Streifenwagen handelte, und sprang sofort vom Weg in die Rebzeilen.
Belledin hatte nur den Umriss einer Frau entdeckt, die floh. Er
setzte ihr nach.
»Anhalten!«, befahl er den Uniformierten. »Ich jage sie euch
entgegen. Ihr empfangt sie auf der anderen Seite.« Er sprang aus dem Wagen und
verschwand ebenfalls in den Reben. Der Streifenwagen kehrte um und fuhr wie
befohlen.
Belledin schwor sich zum wiederholten Mal, dass er wieder trainieren
würde. Nach wenigen Metern spürte er schon sein operiertes Knie. Er hatte die
Krankengymnastik vernachlässigt, und das rächte sich nun. Aber auch er biss auf
die Zähne. Schließlich war er einst die Hoffnung des deutschen Zehnkampfes
gewesen. Und nirgendwo brannten die Muskeln und Gelenke mehr als in der
Königsdisziplin der Athleten.
Margit sprang durch ihr Königreich. Belledin würde sie nicht
schnappen. Nie mehr. Doch von vorne versperrte ihr plötzlich wieder der
Streifenwagen den Weg. Für einen Moment saß sie in der Falle. Ihre Augen
suchten verzweifelt nach einem Ausweg und fanden ihn in einem Vollernter.
Sie sprintete zu dem Gefährt, schwang sich auf den Bock und startete
das Monster. Dann brach sie damit durch zwei Rebzeilen und floh durch die geernteten
Weinstöcke.
Der Streifenwagen musste passen. Schon beim Versuch, dem Vollernter
zu folgen, blieb der Wagen im schlammigen Löß hängen und drehte mit den
Hinterreifen durch.
Vor Margit tauchte Belledin
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