Roter Staub
bemerkte kaum die
Dornen, die sich ihm wie die Krallen einer Katze ins Fleisch bohrten,
oder den knochentiefen Schmerz in seinem Schädel, wo ihn die
Söldnerin geschlagen hatte. Die letzten paar Augenblicke
blitzten immer wieder vorüber, insbesondere der Augenblick von
des Colonels Tod. Lee spürte noch immer das letzte Schaudern von
des Colonels Körper; der Gestank nach verbranntem Fleisch und
Haar schien dauerhaft in seiner Nase festzusitzen, tiefer, als der
Staub reichen konnte. Obgleich er den Mann eigentlich nicht
getötet hatte, fühlte sich Lee für seinen Tod
verantwortlich, und er wußte, jetzt, da der Colonel tot war,
daß dieser, obgleich er seine Eltern ermordet hatte, den Tod
nicht verdient hatte. Niemand, der ins Leben geboren war, verdiente
den Tod.
Chen Yao drückte sich enger an Lee, zitternd vor
nervöser Erschöpfung. Sie hatte nicht mehr länger den
Aspekt eines Gottes an sich; sie war einfach ein kleines
Mädchen. Lee legte den Arm um sie, und nach einem Augenblick
berührte sie ihn am Handgelenk…
…und alles um ihn herum nahm Geschwindigkeit auf.
Nein. Er war langsamer geworden, zur normalen Geschwindigkeit
zurückgekehrt.
Chen Yao sagte in zerstreutem monotonen Tonfall, als rezitierte
sie etwas, das sie lediglich mechanisch erlernt hätte: »Es
ist gefährlich, deine Verstärkungen zu lange zu gebrauchen.
Überlastetes Noradrenalin wird die Schnittstellen-Synapsen
ausbrennen.«
Der rasende Sturm der Yaks war anscheinend zum größten
Teil vorüber, obgleich Staubwolken nahezu alles vor dem Blick
verbargen. Träge Schwaden verdeckten die Sonne, die jetzt nur
noch wenige Spannen vom schlingernden Horizont entfernt war. Der
Wohnwagen war verschwunden, entkommen oder zerstört.
Yaks waren schemenhafte Geister in körnigen Wolken, die vom
tiefstehenden Licht erleuchtet wurden. Ein Kalb mit einem Pelz, der
bis zum Boden reichte, lief nahe vorüber, es blökte, das
Hinterteil kotverschmiert. Ein Yak prallte gegen die Felsmuschel, die
Lee und Chen Yao schützte, und versuchte,
darüberzuklettern, wobei scharfe Hufe die Dornbüsche
peitschten. Dann rollte er herab, schlug auf den Füßen auf
und war verschwunden.
Lee rief Chen Yao ins Ohr: »Wie viele Yaks braucht es, bis es
zum wilden Sturm kommt?«
»So viele, wie du kriegen kannst!«
Lee zog sich aus den Dornen heraus und riskierte es, sich
aufzurichten. Es waren nur noch wenige Yaks da, die trabten oder
trotteten, mit der unbekümmerten Aura derjenigen, die nicht mit
der Herde verbunden sind, jedoch gleichzeitig nicht
zurückgelassen werden wollten.
Lee beugte sich zu Chen Yao hinab, zog sie auf die
Füße. »Ich glaube, wir können ihr
nachlaufen.«
Chen Yao sagte: »Sei nicht dumm«, doch Lee, der sie kaum
hörte, riß sie am Arm hoch und zog sie hinaus ins
Schwanzende des wilden Sturms. Es war schließlich absolut
sicher. Mittels Infrarot konnte er jeden Nachzügler durch den
wehenden Staub erkennen, lange, bevor sie ihn sehen konnten. Chen Yao
zerrte an ihm, versuchte, ihn zum Stehenbleiben zu bewegen, aber er
zog fest, und sie schrie und stolperte ihm nach, außer Atem und
Staub hustend, so daß er nicht verstehen konnte, was sie ihm zu
sagen versuchte.
Auch war es ihm ziemlich egal: er ritt auf einer jähen Woge
von Adrenalin. Er war frei, frei, frei! Frei von seinen Fängern.
Frei von Todesfurcht, denn jetzt wußte er, wie banal die
Bedrohung war. Und, zuallererst, frei von der Verpflichtung, die sein
Leben geformt hatte. Er war so frei wie ein Schmetterling, der sich
nach dreihundert Tagen des Winterschlafs aus seinem Kokon
gekämpft und die Flucht vor der langweiligen Zeit des
Heranwachsens ergriffen hatte.
Frei von allem, selbst von einem echten Plan, außer
irgendeiner vagen Vorstellung davon, die Bahnlinie zu finden, den
ganzen Weg zurück zur Stadt über die Schwellen zu laufen.
Zurück nach Hause.
Er hatte vergessen, daß er kein Zuhause hatte; hatte auch
alles von dem im Traum enthüllten Schicksal vergessen, in das er
hineingefallen war.
Und er hatte auch vergessen, wo die Eisenbahnlinie war. Er hatte
Chen Yao im Trab durch wirbelnden Staub über eine mehr oder
minder gerade Route mitgeschleppt, war hierhin, um einem streunenden
Yak auszuweichen, dorthin, um zutageliegenden erodierten Felsen oder
Dornbüschen auszuweichen. Er erinnerte sich, daß der
Wohnwagen von der Bahnlinie leicht zu erreichen gewesen war, aber sie
waren bis jetzt zwei- oder dreimal diese Entfernung gegangen, und es
gab noch immer kein
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