Roter Staub
das er hatte, nur für den Fall,
daß er Flußbanditen überraschen mußte, welche
die verlassenen Dörfer am Großen Kanal entlang
heimsuchten, und (in Wirklichkeit ihre einzige Anwendung) um
Schwimmvögel oder kleines Wild in den Ufersümpfen zu
schießen. Es hatte einen achteckigen, zwei Meter langen Lauf
mit einem Zielfernrohr, das über die ganze Länge verlief,
und eine Bohrung so groß wie Lees Daumen.
»Akkurat über zwei Kilometer«, sagte Kapitän
Tsatar. »Ich habe einmal ein Pferd unter einem Banditen auf
diese Entfernung weggeschossen. Er war äußerst
überrascht.«
Er sprach ruhig; alle taten es. Abgesehen vom Geräusch des
Wassers, das sich unter der Hülle des Gleiters bewegte, barg die
Nacht eine gewaltige Stille. Kalt, der Himmel klar, die Sterne so
hell, daß Lee glaubte, die Hand ausstrecken und einen
herabpflücken zu können, wie die Frucht von einem Baum. Die
Kontrollen der Brücke strahlten in einem gemütlichen Glanz,
wie ein Herdfeuer, das allmählich zu Asche verglüht. Morgen
würden sie Ichun erreichen, das Danwei am Ende des
Kanals.
Lee war überrascht zu sehen, wie rasch Kapitän Tsatar
und Redd ein Bündnis schmiedeten, denn Tibeter und Yankees waren
traditionell Feinde: während der Wiederbesiedlung hatte es viel
böses Blut gegeben, als eine Million Tibeter vom Himmel gefallen
waren und den Planeten von der Schiffbruch erleidenden Yankee-Kolonie
übernommen hatten. Aber vielleicht war das der springende Punkt.
Redd und Kapitän Tsatar teilten dieselbe Geschichte, und beider
Rassen wurden von den Han unterdrückt – obgleich Redd, in
der echten sturköpfigen Weise der Yankees, das niemals zugegeben
hätte. Beide wußten auch mehr über diese Geschichte
als Lee. Lee war den größten Teil seines Lebens ihr
gegenüber blind gewesen, wie ein Fisch blind gegenüber dem
Wasser ist oder das Kind eines reichen Mannes gegenüber dem
Geld. Es war ein Mittel, das immer vorhanden war. Jetzt jedoch wurde
er von ihrem starken Strom erfaßt, und sein Leben hatte sich
durch sie unfreiwillig verändert, wie die Leben der Machtlosen
stets verändert worden sind.
Er verstand allmählich, warum Redd geblieben war, nachdem er
ihn hierher gebracht hatte.
»Wir sind die ersten Menschen«, sagte Kapitän
Tsatar, als Lee ihn fragte, ob die Ku li wirklich existierten.
»Wir haben niemals einen Namen benötigt, bis jetzt. Wenn
der Name unsere Feinde mit Furcht schlägt, dann ist das uns zum
Vorteil.«
»Ku li«, sagte Soldat, »ist ein ebensoguter
Name wie jeder andere auch. Wir sind nicht so zahlreich, wie die
Zehntausend Jahre die Öffentlichkeit glauben lassen wollen, aber
wir werden die Menschen vereinigen und mit ihnen
voranschreiten.«
»Meinst du, ihr werdet ihnen eure Ideen
überstülpen?« fragte Lee.
»Wir lernen von den Menschen«, erwiderte Kapitän
Tsatar, »und dann lehren wir sie, was wir gelernt haben. Die
Menschen werden die Kontrolle dem Kaiser und den Zehntausend Jahren
abnehmen und alle Kräfte der Transformierung der Welt
konzentrieren, so daß sie so rasch wie möglich
durchgeführt werden kann. Natürlich wird das anfangs eine
Beschränkung der individuellen Rechte bedeuten. Aber politische
Macht, die im Namen des Kaisers ausgeübt wird, ist lediglich das
Instrument, durch das die Zehntausend Jahre die Menschen
unterdrücken.«
Soldat sagte, jäh und unerwartet leidenschaftlich:
»Unter unseren Händen wird sich die Welt auf immer
verändern. Und zum Wohle für jedermann.«
»Die Menschen wissen, daß sie, um weiterzukommen,
kooperieren müssen«, meinte Redd. »Aber sie brauchen
auch Führung. Ein bißchen so, wie eine Herde zu
lenken.«
Soldat sagte: »Wenn die Menschen die Macht übernehmen
und sich zur herrschenden Klasse machen, dann werden sie die
Strukturen, die sie unterdrücken, hinweggefegt haben. Sie
können sich nicht selbst unterdrücken.«
»Anstelle einer hierarchischen Gesellschaft werden wir ein
Bündnis haben«, warf Kapitän Tsatar ein, »in dem
die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie
Entwicklung aller ist.«
»Jeder Mensch ein Kaiser«, sagte Redd.
Soldat schüttelte den Kopf. »Niemand wird herrschen
außer der Wille der Menschen. Jeder Mensch nach seinem wahren
Selbst.«
»Wir haben nicht die Zeit, dich alles zu lehren«, sagte
Kapitän Tsatar und lächelte.
Lee sah von einem zum anderen. »Ich lerne die ganze Zeit
über«, sagte er.
»Wir sind wenige«, sagte Kapitän Tsatar. »Das
gebe ich zu. Aber Drachen schlüpfen aus
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