Roter Staub
sie von einem zusammensackenden Netz
aus Stolperdraht blockiert, der zwischen den Gebäuden zu beiden
Seiten aufgespannt worden war. Oder vielmehr zwischen den
verbliebenen Mauern, denn die Gebäude waren ausgeweidet,
Löcher hindurchgesprengt, die flachen Dächer zum Einsturz
gebracht worden. Diese Seite des Platzes wies nach Osten, und
frühes Sonnenlicht ergoß sich die Feuerschneisen hinab,
brannte auf den roten Flaggen, die von jedem verfügbaren Punkt
wehten. Jeder Fetzen roten Tuchs in Ichun mußte requiriert
worden sein; selbst die großen Gingkos waren in Rot
gehüllt.
Lastwagen parkten in einem Halbkreis, der sich von der
Mündung der Hauptstraße in den Platz hinein bog.
Fünfzig oder sechzig Menschen lümmelten sich hinter dieser
behelfsmäßigen Barrikade. Die meisten waren Zivilisten,
und viele trugen noch immer Masken, was ihnen einen Hauch von
Karnevalsfröhlichkeit verlieh, im Kontrast zu den grimmigen
Gesichtern der wenigen Soldaten unter ihnen.
Der Korporal erklärte Lee, daß sich die meisten seiner
Männer auf den umgebenden Dächern befänden, und
Kapitan Tsatar entschuldigte sich und ging, um selbst als
Heckenschütze auf Position zu gehen. Er war halb über den
Platz, da brachen zwei Friedenstauben aus der Luft, tief über
den Gebäuden, Schatten gegen die strahlende Morgensonne. Ihre
Flügel erzeugten ein donnerndes Pulsieren; Lee sah die
Bordwaffen unter ihrem Bauch flackern, hörte sie jedoch nicht
feuern. Reihen von Staub gingen über den Platz. Ein Gingko flog
in Splittern davon, und dann barst ein Lastwagen auseinander und
verstreute unter Flammen und schrecklichem Lärm Körper und
Körperteile.
Die Überlebenden gaben eine abgerissene Salve ab, aber die
Friedenstauben waren bereits außer Reichweite. Kapitän
Tsatar war zu Boden gestürzt. Jetzt kam er mühsam wieder
auf die Beine, staubte sich die losen Hosen ab und trabte über
den Platz in die schattige Arkade eines Gebäudes auf der anderen
Seite. Der Korporal setzte einen gepolsterten Helm auf und sprach
drängend in dessen Mikrofon, wobei er die Schaumstoffpolsterung
mit einem Finger an seine Kehle drückte.
Chen Yao sah zum Himmel auf. »Da kommen sie wieder«,
sagte sie.
Zwei schwarze Flecken im rosafarbenen Himmel: ihre
knollenförmigen Körper und die sich biegenden
kreisförmigen Flügel sprangen deutlich ins Auge, als Lees
Gesichtssinn sich reflexartig verstärkte. Dämmerlicht
brannte auf ihren Kabinenhauben. Sie eilten rascher als das Donnern
ihrer Flügel voran. Weder Redd noch der Korporal machten eine
Bewegung, um in Deckung zu gehen, also blieb Lee gleichfalls an Ort
und Stelle stehen. Redd legte einen Arm um Chen Yao, aber sie entzog
sich ihm, ohne den Blick von den herabschnellenden Friedenstauben zu
wenden. Es überkam Lee, daß die meisten heroischen Akte
einfach aus Verlegenheit herrührten.
Als die Friedenstauben auf die Baumwipfel rund um das Haus des
Gouverneurs zuglitten, schoß ein strahlendes Licht von dem Dach
eines der Gebäude hoch, das an den Platz grenzte. Einen
Augenblick lang dachte Lee, es wäre ein Schlag aus den Waffen
der Friedenstauben, doch dann flog die rechte Friedenstaube
auseinander, und Lee wurde klar, daß das Licht ein
Ein-Schuß-Laser gewesen war. Zerstörte Teile, die meisten
brennend, stürzten auf einer langsamen Bahn herab, als sich die
Friedenstaube mitten in der Luft auf die Nase stellte, die
Flügel über der Kabinenhaube zusammenfaltete und unter die
Klippe hinabstürzte.
»Schön«, sagte der Korporal mit einer traurigen
Befriedigung, »jetzt wissen sie, daß wir übergelaufen
sind.« Er hielt inne, den Kopf zur Seite geneigt. Er horchte auf
den Lautsprecher in seinem Helm. »Oh, sie wissen es, schon gut.
Kommt!«
Redd und Lee trabten neben ihm her, und die kleine Chen Yao
mußte rennen, um sich ihrem Schritt anzupassen. Sie sagte:
»Ich höre ein fernes Donnern.«
»Kavallerie«, sagte der Korporal. »Hier
entlang.«
Sie betraten den Schatten einer der Arkaden, die sich am Platz
entlangzogen, und kanterten eine gewundene Treppe empor, die an jeder
Biegung von Sonnenlicht erhellt wurde, das durch schmale verglaste
Fenster fiel. Das Glas war von Jahrhunderten der winterlichen
Sandstürme milchig vernarbt. Lee konnte ganz plötzlich
nicht mehr damit aufhören, alle Details zu bemerken. Jeder
Augenblick war auf einmal bedeutsam.
Die Treppe endete an einer offenen Falltür. Lee trat hinaus
auf das flache Dach, wo die Morgenbrise kälter und stärker
erschien als auf dem
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