Roter Zar
Vorsichtig berührte er mit rauhen Fingerspitzen die wettergegerbte Haut unterhalb der Augen, als wäre er sich unsicher, wer ihn hier anstarrte.
Dann kehrte er ins Büro zurück. Die Tür war geschlossen. Er klopfte an.
»Herein!«, kam die scharfe Antwort.
Anton hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und rauchte eine Zigarette.
Der Aschenbecher war voll. Mehrere Kippen glühten noch vor sich hin. Im Raum hing eine blaue Rauchwolke.
Da es nur einen Stuhl gab – den, auf dem sein Bruder saß –, blieb Pekkala stehen.
»Besser«, sagte Anton und stellte die Füße auf den Boden, »aber nicht viel.« Er faltete die Hände und legte sie auf den Schreibtisch. »Du weißt, wer nach dir geschickt hat?«
»Genosse Stalin«, sagte Pekkala.
Anton nickte.
»Stimmt es«, fragte Pekkala, »dass er der rote Zar genannt wird?«
»Das sagt ihm keiner ins Gesicht«, erwiderte Anton, »nicht, wenn er noch eine Weile leben möchte.«
»Wenn er der Grund für mein Hiersein ist«, fuhr Pekkala fort, »dann möchte ich mit ihm reden.«
Anton lachte. »Wenn du mit Genosse Stalin reden möchtest, dann wartest du gefälligst, bis er mit dir reden will. Und erst dann wirst du dein Gespräch bekommen. Bis dahin gibt es einiges zu tun.«
»Du weißt, was mir zugestoßen ist, damals im Butyrka-Gefängnis?«
»Ja.«
»Dafür ist Stalin verantwortlich. Er persönlich ist dafür verantwortlich.«
»Seitdem hat er Großes für das Land geleistet.«
»Du«, fuhr Pekkala fort, »bist auch verantwortlich.«
Anton ballte die Fäuste. »Das kann man so und so sehen.«
»Du meinst, der Unterschied liegt nur darin, wer gefoltert wurde und wer gefoltert hat?«
Anton räusperte sich, bemüht, Ruhe zu bewahren. »Ich meine, dass wir verschiedene Wege eingeschlagen haben, du und ich. Meiner hat mich hinter diesen Schreibtisch geführt.« Er klopfte gegen das Holz. »Und deiner hat dich dazu geführt, dass du jetzt davorstehst. Ich bin jetzt ein Offizier im Büro für besondere Operationen.«
»Was wollt ihr von mir?«
Anton erhob sich und schloss die Tür. »Wir wollen, dass du in einem Verbrechen ermittelst.«
»Sind dem Land die Polizisten ausgegangen?«
»Du bist genau derjenige, den wir dafür brauchen.«
»Geht es um Mord?«, fragte Pekkala. »Um vermisste Personen?«
»Vielleicht«, erwiderte Anton leise, das Gesicht noch immer zur Tür gerichtet. »Vielleicht auch nicht.«
»Muss ich, bevor ich den Fall löse, erst deine Rätsel lösen?«
Anton drehte sich jetzt zu ihm um. »Ich rede von den Romanows. Dem Zaren, seiner Frau und seinen Kindern. Von ihnen allen.«
Dunkle Erinnerungen wurden wieder wach, als Pekkala den Namen hörte. »Aber sie wurden hingerichtet«, sagte er. »Der Fall wurde vor zehn Jahren abgeschlossen. Die Revolutionsregierung hat die Verantwortung dafür übernommen!«
Anton kehrte zum Schreibtisch zurück. »Es stimmt, wir haben behauptet, sie hingerichtet zu haben. Aber wie du vielleicht weißt, wurden niemals Leichen präsentiert, um die Behauptungen zu beweisen.«
Der Lufthauch, der durch die Fensteröffnungen strich, brachte den schweren Geruch kommenden Regens mit sich.
»Du meinst, ihr wisst nicht, wo die Leichen sind?«
Anton nickte. »Genau.«
»Dann handelt es sich also um einen Vermisstenfall?«, fragte Pekkala. »Willst du mir sagen, der Zar könnte noch am Leben sein?« Wieder überkamen ihn Schuldgefühle, weil er die Romanows ihrem Schicksal überlassen hatte. Alles, was Pekkala über die Hinrichtungen gehört hatte, hatte seine Zweifel nie ganz auslöschen können. Aber er hatte nicht damit gerechnet, sie jemals aus dem Mund eines Soldaten der Roten Armee zu hören.
Nervös sah sich Anton im Zimmer um, als fürchtete er, in der rauchgeschwängerten Luft jemanden zu entdecken, der sie belauschte. Er stand auf, ging zum Fenster und spähte in die Gasse neben dem Gebäude. Dann schloss er die Fensterläden. Der Raum wurde in rötlich fahles Licht getaucht. »Der Zar und seine Familie sind nach Jekaterinburg gebracht worden – das jetzt Swerdlowsk heißt.«
»Das liegt nur ein paar Tage Fahrt von hier.«
»Ja. Swerdlowsk ist wegen seiner abgeschiedenen Lage ausgewählt worden. Keiner würde dort versuchen, sie zu befreien. Das haben wir uns zumindest gedacht. Die Familie wurde nach ihrer Ankunft im Haus eines Kaufmanns namens Ipatjew einquartiert.«
»Was hattet ihr mit ihnen vor?«
»Es war nicht klar, wie mit ihnen verfahren werden sollte. Die Familie Romanow war vom
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