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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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Zeitpunkt ihrer Verhaftung in Petrograd zu einer Belastung geworden. Solange der Zar lebte, hatten die Konterrevolutionäre einen Grund, ihren Kampf fortzuführen. Aber hätten wir sie andererseits einfach liquidiert, hätte sich die Weltöffentlichkeit möglicherweise gegen uns gewandt. So wurde beschlossen, die Romanows am Leben zu lassen, bis sich die neue Regierung gefestigt hatte. Dann sollte dem Zaren der Prozess gemacht werden. Richter sollten von Moskau anreisen. Alles hätte so öffentlich wie möglich stattfinden, Zeitungen hätten darüber berichten sollen. In den ländlichen Gebieten sollten Bezirkskommissare der Bevölkerung das juristische Vorgehen erklären.«
    »Und der Zar würde für schuldig befunden werden.«
    Anton wischte den Einwand mit einer Handbewegung fort. »Natürlich, aber der Prozess würde unser Vorgehen legitimieren.«
    »Und was hattet ihr mit dem Zaren danach vor?«
    »Ihn erschießen. Möglicherweise. Wir hätten ihn auch hängen können. Das stand im Einzelnen noch nicht fest.«
    »Und seine Frau? Und die vier Töchter? Sein Sohn? Hätten die auch gehängt werden sollen?«
    »Nein! Hätten wir sie alle umbringen wollen, hätten wir uns nie die Mühe gemacht, sie bis nach Swerdlowsk zu schaffen. Wir wollten unter allen Umständen vermeiden, dass aus den Kindern Märtyrer werden. Wir wollten doch nur beweisen, dass die Revolution nicht von Barbaren geführt wurde.«
    »Was hattet ihr also mit der übrigen Familie vor?«
    »Sie hätten den Briten übergeben werden sollen, um im Gegenzug die offizielle Unterstützung der neuen Regierung zu bekommen.«
    Lenin musste das alles für einen einfachen Plan gehalten haben. Aber einfache Pläne, dachte Pekkala, gehen immer schief. »Was ist dazwischengekommen?«
    Anton atmete langsam aus. »Das wissen wir nicht genau. Im Mai 1918 kam es zum Aufstand der Tschechoslowakischen Legion, nachdem ihr befohlen wurde, die Waffen niederzulegen. Viele von ihnen waren Deserteure aus der österreichisch-ungarischen Armee und hatten sich in der Frühphase des Krieges den Russen angeschlossen. Diese Soldaten hatten seit Jahren an der Front gekämpft, sie würden nicht einfach die Waffen ablegen und zur Roten Armee überlaufen. Nein, sie bildeten eine eigene Streitmacht und schlossen sich der weißen Gegenrevolution an.«
    »Die Weißen«, sagte Pekkala. In den Jahren nach der Revolution waren Tausende ehemalige Offiziere der Weißen Armee in die Gulags eingeliefert worden und ausnahmslos der schlimmsten Behandlung ausgesetzt gewesen. Die wenigsten hatten ihren ersten Winter überlebt.
    »Solange Krieg herrschte, konnten die Tschechen und Slowaken nicht in ihre Heimatländer zurück«, fuhr Anton fort. »Also beschlossen sie, sich entlang der transsibirischen Eisenbahnlinie nach Osten aufzumachen, um dann, nach Durchquerung von ganz Russland, von Wladiwostok auf Schiffen zurück nach Frankreich zu fahren, um dort erneut für die Alliierten in den Kampf zu ziehen. Sie waren schwer bewaffnet, ihre militärische Disziplin hatte bislang nicht gelitten. Wir hatten ihnen nichts entgegenzusetzen. In jeder Stadt, in der sie auf ihrem Zug nach Osten einmarschierten, wurden die Streitkräfte der Roten Armee kurzerhand aufgerieben.«
    »Die Eisenbahn führt südlich von Swerdlowsk vorbei«, sagte Pekkala. Ihm dämmerte, wo der Plan schiefgelaufen war.
    »Ja«, antwortete Anton. »Die Weißen hätten die Stadt eingenommen. Die Romanows wären befreit worden.«
    »Also hat Lenin ihre Hinrichtung angeordnet?«
    »Das hätte er tun können. Aber das hat er nicht.« Anton wirkte regelrecht entsetzt. Allein durch das Wissen um diese Geheimnisse befand er sich in tödlicher Gefahr. Darüber zu sprechen war geradezu selbstmörderisch. »Es gab so viele Fehlalarme – Einheiten der Roten Armee, die für Weißgardisten gehalten wurden, Kuhherden, die man als Kavallerie ansah, Donnergrollen, das sich wie Kanonenfeuer anhörte. Lenin befürchtete, die Wachmannschaften der Romanows würden, falls sie einen Hinrichtungsbefehl erhielten, in Panik geraten und den Zaren und dessen Familie kurzerhand erschießen, ganz egal, ob die Tschechen einen Befreiungsversuch unternahmen oder nicht.« Anton barg das Gesicht in den Händen und drückte die Fingerspitzen gegen die geschlossenen Augenlider. »Letztlich aber war es völlig egal.«
    »Was ist geschehen?«, fragte Pekkala.
    Regen hatte eingesetzt, Tropfen schlugen gegen die Fensterläden.
    »In dem Haus, in dem die Romanows festgehalten

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