Roter Zar
damit er nicht laut reden musste, und dabei legte sich sein warmer Atem auf die glänzende Truhenoberfläche, worauf der geisterhafte Abdruck einer Hand sichtbar wurde. Der Abdruck stammte nicht von ihm und auch nicht von den anderen sechs Kadetten in der Stube. Der Feldwebel wurde gerufen, und er ordnete den Vergleich mit Antons Handabdruck an.
Als sich herausstellte, dass die beiden Abdrücke übereinstimmten, gestand Anton die Tat, beharrte aber darauf, dass er nur eine kleine Summe gestohlen habe.
Der Betrag spielte keine Rolle. Nach dem Ehrenkodex der Finnischen Garde, in deren Kaserne keine Türen abgesperrt wurden, wurde jeder Diebstahl mit sofortiger Degradierung und Entlassung bestraft. Als Anton von seiner Anhörung beim Regimentskommandeur zurückkam, waren seine Taschen bereits gepackt.
Zwei Offiziere begleiteten Anton zum Kasernentor, dort machten die beiden ohne ein Wort des Abschieds kehrt und marschierten aufs Gelände zurück. Das Tor wurde hinter Anton geschlossen.
Am ersten Tag seiner Dienstzeit wurde Pekkala ins Büro des Kommandeurs bestellt.
Er wusste noch nicht, wie er gegenüber einem vorgesetzten Offizier aufzutreten oder wie er zu grüßen hatte – diese Sorgen hegte er, als er über den Exerzierplatz eilte. Abteilungen mit neuen Rekruten stapften an ihm vorüber, übten das Marschieren und wurden dabei von schrill kreischenden Ausbildungsfeldwebeln bis ins dritte Glied verflucht.
Im Warteraum wurde Pekkala von einem großen, makellos gekleideten Gardesoldaten empfangen. Er hatte eine hellere Uniform als die Rekruten und trug über dem Rock einen Gürtel, auf dessen schwere Messingschnalle der doppelköpfige Adler des Zaren geprägt war. Eine Kappe mit kurzem Schild beschattete die obere Hälfte seines Gesichts.
Als der Soldat den Kopf hob, sah Pekkala ihm in die strahlend hellen Augen.
Mit leiser Stimme wies der Soldat Pekkala an, den Rücken gerade zu halten und die Hacken zusammenzuschlagen, wenn er vor dem Kommandeur stand.
»Mach es mal vor«, sagte der Soldat.
Pekkala tat sein Bestes.
»Nicht nach hinten überkippen«, sagte ihm der Soldat.
Pekkala konnte nicht anders. Seine Muskeln waren so verkrampft, dass er sich kaum noch rühren konnte.
Der Soldat zog das graue Tuch an den Schultern straff und glättete Pekkalas rauhen Uniformrock. »Wenn der Kommandeur mit dir redet, antwortest du nicht einfach mit ›ja, Herr‹, sondern mit ›ja, Herr Kommandeur‹ oder mit ›nein, Herr Kommandeur‹. Verstanden?«
»Ja, Herr.«
Der Soldat schüttelte den Kopf. »Mich nennst du nicht Herr. Ich bin kein Offizier.«
Die Regeln dieser fremden Welt schwirrten ihm durch den Kopf.
Niemals würde er sie sich alle einprägen können, dachte er. Hätte ihm jemand in diesem Augenblick vorgeschlagen, nach Hause zurückzukehren, hätte er das Angebot sofort angenommen. Gleichzeitig fürchtete er, dass genau dies der Grund war, warum der Kommandeur ihn zu sich bestellt hatte.
Der Soldat schien seine Gedanken lesen zu können. »Du musst keine Angst haben«, sagte er. Dann drehte er sich um und klopfte an. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete er die Tür und wies Pekkala mit einem abrupten Nicken an, einzutreten.
Der Kommandeur hieß Parainen. Er war groß und hager, Kiefer und Wangenknochen waren so scharfkantig, dass sein Schädel aussah, als wäre er aus Glasscherben zusammengesetzt.
»Du bist der Bruder von Anton Pekkala?«
»Ja, Herr Kommandeur.«
»Hast du irgendwas von ihm gehört?«
»In letzter Zeit nicht, Herr Kommandeur.«
Der Kommandeur kratzte sich am Hals. »Er hätte vor einem Monat wieder zurückkommen sollen.«
»Zurückkommen?«, fragte Pekkala. »Aber ich dachte, er wäre ausgeschlossen worden.«
»Nicht ausgeschlossen. Nur zeitweilig relegiert.«
»Zeitweilig?«, fragte Pekkala und fügte noch ein »Herr, Kommandeur« an.
»Ja«, erklärte Parainen. »Hätte er sich noch mal etwas zuschulden kommen lassen, wäre er endgültig relegiert worden. Aber beim ersten Vergehen eines Kadetten zeigen wir Nachsicht.«
»Warum ist er dann nicht zurückgekommen?«, fragte Pekkala.
Der Kommandeur zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist er zu dem Schluss gelangt, dass dieses Leben nichts für ihn ist.«
»Das kann nicht sein, Herr Kommandeur. Nichts anderes hat er jemals gewollt.«
»Menschen ändern sich. Außerdem bist du jetzt hier, um seinen Platz einzunehmen.« Der Kommandeur erhob sich und ging zu den Fenstern, von denen aus man die Kaserne und die
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