Roter Zar
dahinterliegende Stadt überblicken konnte. Das graue winterliche Nachmittagslicht fiel auf sein Gesicht. »Ich möchte dir sagen, dass du für die Taten deines Bruders nicht zur Rechenschaft gezogen wirst. Du hast die gleichen Chancen wie alle anderen. Wenn du hier scheitern solltest, so wie es vielen ergeht, dann liegt das ausschließlich an dir. Und wenn du dein Ziel erreichst, dann nur aufgrund dessen, was du tust und nicht irgendein anderer. Klingt das in deinen Ohren gerecht?«
»Ja, Herr Kommandeur«, sagte Pekkala.
In den folgenden Wochen wurde Pekkala im Marschieren und im Schießen unterwiesen, und er fügte sich in das Leben an einem Ort, an dem es keine Privatsphäre gab – außer in Gedanken, die er aber für sich behielt. Auf dem Kasernengelände des Finnischen Garderegiments, unter jungen Männern aus Helsinki, Kauhava und Turku, hätte er fast vergessen können, dass er sich nicht mehr in seinem Heimatland befand. Viele hier hatten sich nie etwas anderes erträumt, als der finnischen Garde anzugehören. Manche folgten damit einer Familientradition, die Generationen zurückreichte.
Manchmal war Pekkala, als wachte er auf und steckte in der Haut eines ganz anderen. Der Mensch, der er einmal gewesen war, trat in die Schatten zurück wie die Toten, deren letzte Reise er früher zu Hause beaufsichtigt hatte.
Aber eines Tages sollte sich das alles ändern.
L angsam schloss Pekkala die Augen, als sich ihm der Lauf von Antons Waffe in die Schläfe bohrte. Er zeigte keinerlei Angst, nur erwartungsvolle Ruhe, als hätte er seit langer Zeit genau auf diesen Moment gewartet. »Nur zu«, flüsterte er.
Im Gang hallten Schritte. Es war Kirow, der junge Kommissar. »Der Polizist ist abgehauen«, sagte er und blieb abrupt stehen, als er die beiden Männer vor sich auf dem Boden sah.
Leise fluchend ließ Anton den Hals seines Bruders los.
Keuchend rollte sich Pekkala weg.
Verwundert starrte Kirow sie an. »Kommandeur, wenn Sie mit der Rauferei fertig sind, könnten Sie mir vielleicht erklären, warum zum Teufel alle so nervös werden, wenn sie Ihren Bruder zu Gesicht bekommen.«
Pekkalas Karriere begann mit einem Pferd.
Nach der Hälfte der Regimentsausbildung verlagerte sich der Drill in die Stallungen, wo die Kadetten das Reiten lernen sollten.
Obwohl Pekkala ganz gut mit dem Pferd umzugehen wusste, das er immer vor den Wagen seines Vaters gespannt hatte, hatte er noch nie in einem Sattel gesessen.
Er hatte keine Angst davor. Schließlich, redete er sich ein, hatte er auch vom Schießen und Marschieren keine Ahnung gehabt, und das war ihm dann auch nicht schwerer gefallen als den anderen Rekruten.
Die Ausbildung verlief zunächst problemlos. Die Kadetten lernten, ein Pferd zu satteln, auf- und abzusitzen und das Tier um Holzhindernisse herumzudirigieren. Die Pferde waren damit so vertraut, dass Pekkala nur darauf achten musste, nicht aus dem Sattel zu fallen.
Die nächste Aufgabe bestand darin, in einer großen Halle mit dem Pferd über ein Hindernis zu springen. Der dafür verantwortliche Feldwebel war neu in der Einheit. Er hatte befohlen, über das Hindernis mehrere Reihen Stacheldraht zu spannen. Denn, erklärte er den angetretenen Kadetten, es reiche eben nicht, sich an das Pferd zu klammern, das die geforderte Aufgabe auch ganz ohne Reiter vollführen könne.
»Zwischen Pferd und Reiter«, erklärte er und ergötzte sich an seiner dröhnenden Stimme in der Halle, »muss ein enges Band bestehen. Solange ihr mir das nicht beweist, werde ich nicht gestatten, dass ihr ins Regiment aufgenommen werdet.«
Als die Pferde den glitzernden Stacheldraht sahen, wurden sie nervös, scheuten, tänzelten und verbissen sich in ihr Zaumzeug. Manche weigerten sich zu springen, bäumten sich vor dem Hindernis auf und warfen ihre Reiter ab. Pekkalas Pferd versuchte seitlich auszuweichen, krachte mit der Flanke gegen das Hindernis, während Pekkala darüber hinweggeschleudert wurde. Er landete auf der Schulter und rollte sich auf dem weichen Untergrund ab. Als er sich aufrappelte und sich das alte Stroh abklopfte, machte sich der Feldwebel bereits Notizen in seiner Kladde.
Nur wenige Tiere schafften es beim ersten Mal. Die meisten wurden durch den Draht verletzt, der sich in ihre Vorderläufe oder in den Bauch schnitt.
Der Feldwebel befahl den Kadetten, es ein weiteres Mal zu versuchen.
Eine Stunde später, nach mehreren weiteren Versuchen, hatte es lediglich die Hälfte der Rekruten geschafft, mit den Pferden
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