Roter Zar
das Hindernis zu überwinden. Der Boden war übersät mit Blutspritzern.
Die Kadetten standen in Habachtstellung und hielten ihre zitternden Pferde am Zügel.
Der Feldwebel hatte mittlerweile eingesehen, dass er einen Fehler begangen hatte, konnte aber nicht mehr zurück, ohne das Gesicht zu verlieren. Seine Stimme war vom vielen Brüllen heiser und schrill geworden, und so klang er nicht mehr wie ein Befehlshaber, sondern wie jemand, der kurz vor der Hysterie stand.
Jedes Mal, wenn ein Pferd mit dem Hindernis kollidierte – beim dumpfen Aufprall des Pferdeleibs gegen die Holzplanken, dem Scharren der Hufe, dem Stöhnen des zu Boden stürzenden Reiters –, ging ein Zucken durch die übrigen Reiter und Pferde. Einer der Kadetten weinte still vor sich hin, während er darauf wartete, dass die Reihe an ihn kam. Es war sein sechster Versuch. Wie Pekkala hatte er es bislang kein einziges Mal geschafft.
Dann sollte es Pekkala wieder probieren. Er schwang sich in den Sattel und sah über den Kopf des Pferdes zum Hindernis und den unteren, von den Pferdehufen zersplitterten Planken.
Der Feldwebel stand mit gezückter Kladde daneben.
Pekkala wollte das Pferd schon antreiben und erneut auf das Hindernis zureiten. Er zweifelte nicht daran, dass er abgeworfen würde, und hatte sich in sein Schicksal gefügt. Er war dazu bereit, doch dann, plötzlich, war er es nicht mehr – er sah nicht mehr ein, warum er mit dem Pferd das Hindernis und die blutige Stacheldrahtgirlande anreiten sollte. So rasch er aufgesessen hatte, so rasch saß er wieder ab.
»Aufsitzen«, befahl der Feldwebel.
»Nein«, sagte Pekkala. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte Pekkala die Erleichterung im Blick der anderen Kadetten wahrzunehmen. Erleichterung darüber, dass es so nicht weiterging, und Erleichterung, dass nicht sie dafür zur Verantwortung gezogen wurden.
Diesmal brüllte und fluchte der Feldwebel nicht, wie er es den gesamten Tag getan hatte. So ruhig, wie es ihm möglich war, klappte er die Kladde zu und steckte sie in die obere Tasche seines Uniformrocks. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und kam auf Pekkala zu, bis sich ihre Gesichter fast berührten. »Ich gebe dir noch eine Chance«, flüsterte er kaum hörbar.
»Nein«, wiederholte Pekkala.
Der Feldwebel kam noch näher. »Hör zu«, sagte er, die Lippen dicht an Pekkalas Ohr, »ich verlange nur, dass du es noch einmal versuchst. Wenn du scheiterst, werde ich es dir nachsehen. Und danach werde ich die Ausbildungseinheit beenden. Aber du wirst jetzt aufsitzen und tun, was man dir sagt, oder ich werde dafür sorgen, dass du das Regiment verlässt. Und ich werde dich persönlich zum Tor begleiten und es hinter dir schließen, so wie es sich auch hinter deinem Bruder geschlossen hat. Und es wird mir eine Genugtuung sein, Pekkala. Weil alle erwarten, dass du versagst.«
In diesem Augenblick lief ein Zittern durch Pekkalas Körper, eine Erschütterung wie nach einem Gewehrschuss, nur dass keinerlei Laut zu hören gewesen war. Es war das Seltsamste, was er jemals empfunden hatte, und er war nicht der Einzige, dem es so erging.
Pekkala und der Feldwebel drehten sich gleichzeitig um. Im Schatten des Eingangs zur Halle stand ein Mann. Er trug einen dunkelgrünen Uniformrock und blaue Hosen mit roten Längsstreifen. Eine einfache Uniform, aber die Farben schienen aus sich heraus zu leuchten. Der Mann hatte keine Kopfbedeckung auf. Und aus diesem Grund erkannten alle, dass es der Zar war.
I m Kamin des Polizeichefs knisterte ein kleines Feuer.
»Agent?« Kirow schritt im Zimmer auf und ab, hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Soll das heißen, dass Ihr Bruder für die Geheimpolizei des Zaren gearbeitet hat?«
Pekkala saß am Schreibtisch und las die schlammbraune Akte, über die sich diagonal ein roter Streifen zog. In schwarzen Lettern stand darauf: »Streng geheim«.
Das Wort »geheim« hatte für sich genommen keine Bedeutung mehr. Mittlerweile war alles geheim.
Sorgfältig blätterte er die Seiten um und war so in Gedanken vertieft, dass er den aufgebrachten Kommissar kaum zu hören schien.
»Nein.« Anton saß am Feuer und hielt die Hände über die Flammen. »Er hat nicht für die Ochrana gearbeitet.«
»Für wen dann?«
»Habe ich doch gesagt. Für den Zaren.«
Sie sprachen über Pekkala, als befände er sich gar nicht im Raum.
»In welcher Abteilung?«
»Er war seine eigene Abteilung«, erklärte Anton. »Der Zar hat eine Stelle für einen
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