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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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oder mitgeschleift, er war erschöpft. Sie sahen ein, dass sie nicht mehr weiter konnten. Ich rief ihnen zu, dass sie aufgeben sollten. Grodek sah mich lange an. Balka stand neben ihm und stützte sich auf seine Schulter. Dann umarmte Grodek sie, hob sie hoch und setzte sie auf das Steingeländer. Auf dem Fluss unten trieben Eisschollen. Ich rief, dass sie nicht entkommen konnten.«
    »Und was hat er gemacht?«, fragte Kirow.
    »Er hat sie geküsst, dann hat er seine Waffe gezogen und ihr in den Kopf geschossen.«
    Kirow zuckte zurück. »Er hat sie erschossen? Ich dachte, er hätte sie geliebt?«
    »Mir war nicht klar, wie weit er zu gehen bereit war. Maria Balka fiel in den Fluss und wurde unter das Eis gezogen.«
    »Und Grodek? Hat er sich ergeben?«
    »Erst, nachdem er versucht hat, sich selbst zu töten. Er legte die Waffe an den Kopf und drückte ab, aber die Trommel blockierte.«
    »Warum ist er nicht gesprungen?«, fragte Kirow. »Vielleicht hätte er entkommen können.«
    »Grodek litt unter Höhenangst. Obwohl es höchstens sechs bis acht Meter zum Wasser waren, war er vor Angst wie gelähmt. Er wollte an mir vorbei, aber ich schlug ihn mit dem Griff meines Revolvers nieder. Er hatte eine tiefe Wunde an der Stirn. Im gesamten Verlauf des Prozesses weigerte er sich, einen Verband zu tragen. Die Narbe, eine Linie mit schwarzen Stichen, sah aus wie ein dunkelroter Tausendfüßler, der sich zwischen seinen Haaren verkriechen wollte. Und wenn Grodek nach der Gerichtssitzung zurück in seine Zelle gebracht wurde, schrie er den anwesenden Journalisten zu, die Polizei hätte ihn gefoltert.«
    »Und Balka? Was ist mit ihrer Leiche geschehen?«
    »Wir haben sie nie gefunden. Die Strömung unter dem Eis ist sehr schnell. Wahrscheinlich wurde sie in die Ostsee hinausgetragen. Ich ließ Taucher mehr als ein Dutzend Mal den Fluss absuchen.« Pekkala schüttelte den Kopf. »Sie ist spurlos verschwunden.«
    »Und Grodek? Warum wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, nach allem, was er getan hatte? Warum wurde er nicht zum Tod verurteilt?«
    »Ursprünglich wurde die Todesstrafe verhängt. Aber der Zar setzte sich über den Richterspruch hinweg. Er hielt Grodek für ein Opfer, das erst von seinem Vater, dann von Zubatow ausgenutzt worden war. Grodek war noch jung. Der Zar meinte, unter anderen Umständen hätte Grodek sein eigener Sohn sein können. Ihm war aber auch klar, dass Grodek niemals freigelassen werden konnte. Daher wurde er in der Trubezkoi-Bastion der Peter-und-Paul-Festung inhaftiert, lebenslänglich und ohne Aussicht auf Begnadigung.«
    »Ich dachte, während der Revolution wurden alle Gefangenen freigelassen.«
    »Politische Gefangene, ja, aber sogar die Bolschewiken waren wohl klug genug, jemanden wie Grodek nicht auf freien Fuß zu setzen.«
    »Worin hat sich Grodek denn von den anderen freigelassenen Mördern unterschieden?«
    Pekkala dachte kurz nach, bevor er antwortete.
    »Fast jeder kann zum Mörder werden, wenn die Umstände ihn – mehr oder weniger – dazu zwingen. Aber es ist ein Unterschied, ob Menschen auf eine entsprechende Situation reagieren oder ob sie sich die entsprechende Situation, die zum Mord führt, erst schaffen. Und diese Menschen müssen wir fürchten, denn diese genießen es, wenn sie morden können. In meiner Zeit als Polizist habe ich keinen kennengelernt, der das Töten mehr genossen hätte als Grodek.«
    Das Feuer knackte.
    »Haben Sie Angst?«, fragte Kirow.
    »Wovor?«, flüsterte Pekkala, dem fast die Augen zufielen.
    »Vor dem, was wir vielleicht im Bergwerksschacht finden.«
    »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Kirow, ich habe Angst, seitdem ich den Wald verlassen habe.«
    »Wohin wollen Sie, wenn Sie frei sind?«, fragte Kirow.
    »Nach Paris«, erwiderte Pekkala.
    »Warum ausgerechnet dorthin?«
    »Ich habe dort noch etwas zu erledigen.«
    Es war seltsam, an die Zukunft zu denken. Immer wenn er den Sonnenuntergang im Tal von Krasnagoljana gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er dem Tod wieder ein Schnippchen geschlagen hatte. Er hatte sein Überleben in Tagen gemessen, mehr hatte er sich nie erhofft. Die Vorstellung, diese Tagesintervalle auf Wochen, Monate oder gar Jahre auszudehnen, verwirrte ihn. Es dauerte seine Zeit, bis ihm klarwurde, dass er wirklich Hoffnung verspürte; ein Gefühl, von dem er geglaubt hatte, er hätte es für immer hinter sich gelassen.
    Endlich wurde Kirows Atem tief und schwer.
    In der Ferne zuckten Blitze.
     
    Bei Sonnenaufgang am

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