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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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nächsten Morgen waren sie wieder unterwegs.
    Ihre Strecke kreuzte eine Straße, die als Moskauer Autobahn bekannt war – ein hochtrabender Name für einen unbefestigten Weg mit zwei Fahrspuren, die sich durch die hügelige Steppe zogen.
    Safrangelber Staub wehte durch die offenen Fenster, während Anton blinzelnd die Karte auf seinem Schoß studierte.
    Gegen Mittag erreichten sie die Kreuzung, nach der Anton Ausschau gehalten hatten. Ohne Hinweisschilder war sie nichts weiter als ein staubtrockenes Wegekreuz. »Hier abbiegen, Kirow«, befahl er. »Hier abbiegen!«
    Die Strecke führte an einem seichten Flusslauf entlang und durch einen Birkenwald, bevor sich die Landschaft öffnete. Dunkle, finster aussehende Wälder umgaben die Felder. Kirow steuerte den Wagen über einen alten Feldweg, die Stoßstangen des Emka strichen durch das hohe Gras.
    Mitten auf dem Feld stand eine alte Hütte, aus deren Dach windschief ein blechernes Kaminrohr ragte. Daneben eine lange Schlafbaracke mit kleinen Fenstern, vor denen die Rollläden heruntergelassen waren.
    Anton drehte die Karte in die eine, dann in die andere Richtung und versuchte sich zu orientieren. »Es muss da drüben beim Haus sein, glaube ich.«
    Die Federung quietschte, als sie über den unebenen Boden holperten. Schließlich hielten sie an, stiegen aus und machten sich auf die Suche nach dem Bergwerksschacht.
    Es dauerte nicht lange, bis sie ihn fanden.
    Der Schacht war nicht viel mehr als ein etwa fünf Schritt breites Loch, über dem sich ein verrosteter Flaschenzug erhob. Saftig grüne Grasbüschel hingen über den Rand der Öffnung. Der obere Teil war wie ein Brunnen ordentlich mit Backsteinen ausgemauert, darunter erstreckten sich nackter Fels und Erde, über die schwarze Wasserrinnsale in die Tiefe sickerten. Zu beiden Schachtseiten war jeweils eine verrostete Eisenleiter angeschraubt. Die meisten Sprossen fehlten, die Schrauben hatten sich zum größten Teil gelöst. Damit konnte man unmöglich in den Schacht gelangen.
    »Wollen Sie da wirklich runter?«, fragte Kirow. »Es ist dort unten stockdunkel.«
    »Ich habe eine Taschenlampe«, sagte Anton. Sie steckte in einem Lederetui, das er an einem Band um den Hals trug.
    Anton untersuchte den Flaschenzug. Die aufgerollten Kabel waren festgerostet, Wasser perlte von den Stellen, an denen noch Schmierfett klebte. Seitlich an der Kabeltrommel ragte eine große Kurbel heraus, die von zwei Männern zu bedienen war. Anton griff danach, zog an, und die Kurbel brach ihm unter den Händen ab. »So viel dazu«, murmelte er.
    Währenddessen hatte Kirow aus dem Kofferraum bereits ein Hanfseil geholt, das als Abschleppseil diente. Nun band er es um die Stoßstange des Emka, kam dann an den Schacht und warf das Seil nach unten in die Grube.
    Die drei Männer lauschten in die Dunkelheit, bis sie ein nasses Aufklatschen hörten.
    Pekkala trat an den Schacht und griff nach dem Seil. Er schien zu zögern.
    »Du willst wirklich da runter?«, fragte Anton.
    »Gib mir die Taschenlampe«, sagte Pekkala.
    Anton reichte sie ihm, dann ließ sich Pekkala ins Seil fallen und prüfte, ob es hielt. Es knarrte und ächzte, die Stoßstange aber gab nicht nach.
    Kirow hob das Seil an, damit es nicht am Schachtrand scheuerte, Pekkala trat zurück, lehnte sich nach hinten über die Leere, dann stieg er ab. Kurz darauf war er nicht mehr zu sehen.
    Die beiden Männer blickten ihm nach, sahen die hin und her schwenkende Taschenlampe, die Pekkala um den Hals hatte und die seine Füße, das Seil und die glitschigen Schachtwände beleuchtete. Der Lichtkreis wurde immer kleiner, Pekkalas schweres Schnaufen schwächte sich zu einem hohlen Echo ab.
    »Mir kam es vor, als hätte er Angst«, sagte Kirow.
    »Er hat Angst«, erwiderte Anton.
    »Vor den Leichen?«
    »Die Leichen jagen ihm keine Angst ein. Nein, das Eingeschlossensein. Das wird er mir nie verzeihen.«
    »Was haben Sie damit zu tun?«, fragte Kirow.
    »Es war ein Spiel«, sagte Anton. »Als solches hat es jedenfalls angefangen. Wir waren noch Kinder, als wir einen Ort aufgesucht haben, der uns strikt verboten war. Wir hatten es unserem Vater versprochen. Im Wald hinter unserem Haus gab es nämlich einen Krematoriumsofen. Er hatte einen hohen Kamin, so hoch wie die Bäume, der Ofen selbst sah aus wie ein riesiger Eisensarg auf einem Ziegelpodest. Wenn Vater den Ofen benutzte, ging ich immer ans Fenster in meinem Zimmer und sah den Rauch über den Baumwipfeln aufsteigen. Vater hatte uns den

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