Roter Zar
Ofen beschrieben, aber bis dahin hatte ich ihn nie mit eigenen Augen gesehen. Ich wollte dorthin, allein aber hatte ich Angst. Also überredete ich meinen Bruder mitzukommen. Er war normalerweise viel zu brav, er wäre nie mitgekommen, aber da er jünger war als ich, fügte er sich schließlich doch.
Es war ein Herbsttag. Wir wussten, keiner würde uns vermissen. Wir trieben uns oft stundenlang draußen herum.
Es war ein mühsames Vorankommen. Der erste Schnee war gefallen, nur eine dünne Puderschicht, die sich im trockenen Laub sammelte. Immer wieder drehten wir uns um, weil wir fürchteten, unser Vater könnte uns folgen, aber nach einer Weile wähnten wir uns allein.
Der Pfad machte eine Kurve, und plötzlich stand der Ofen vor uns. Er war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Der Platz davor war ordentlich aufgeräumt, Holz war gehackt und aufgeschichtet, der Boden gekehrt, und mein Vater hatte einen Besen in die Ofentür gestellt, damit sie offen blieb. Es schien zwar die Sonne, im Schatten der Bäume aber sah das Ofeninnere sehr dunkel und kalt aus.
Ich nahm den Besen weg und öffnete die Tür. Drinnen erkannte ich ein langes Holzbrett, ähnlich einer Bahre. Die Kammer selbst war grau vor Asche, ansonsten aber so sauber wie nur möglich. Für meinen Vater war das sehr wichtig. Obwohl sonst niemand zu diesem Ofen kam, soweit er jedenfalls wusste, legte er großen Wert darauf, dass alles ordentlich und würdevoll aussah.
Mein Bruder wollte auf der Stelle umkehren. Er war überzeugt, dass Vater uns dahinterkommen würde.
Aber dann schlug ich vor, dass einer von uns beiden in den Ofen kriecht, nur um zu sehen, wie das ist.
Mein Bruder weigerte sich.
Ich nannte ihn einen Feigling und schlug vor, dass wir Strohhalme ziehen. Ich sagte ihm, wenn ich bereit wäre, in den Ofen zu gehen, sollte er es auch sein.
Schließlich ließ er sich darauf ein.«
»Und er zog den kürzeren Halm?«, fragte Kirow.
»Glaubte er zumindest«, erwiderte Anton. »Als ich sah, dass er nach dem längeren greifen wollte, drückte ich so fest gegen den Halm, dass er in der Mitte entzweibrach und nur noch halb so lang war wie vorher. Ich sagte, er könne jetzt nicht mehr kneifen, sonst müsste er sein Leben lang mit dem Wissen leben, dass er ein Feigling sei.
Er kroch in den Ofen. Und dann schloss ich die Tür hinter ihm.«
»Sie haben was?«
»Es sollte nur ganz kurz sein. Nur um ihm ein wenig Angst einzujagen. Aber die Tür war mit einem Schnappschloss gesichert, das ich nicht mehr aufbekam. Ich habe es versucht. Wirklich. Aber mir fehlte die Kraft.
Ich hörte ihn schreien. Er wollte wieder raus. Und ich bekam Panik. Ich rannte nach Hause. Da wurde es schon dunkel. Als ich nach Hause kam, stellte Mutter bereits das Abendessen auf den Tisch.
Beim Essen, als mich meine Eltern nach meinem Bruder fragten, sagte ich, ich wüsste nicht, wo er sei. Mein Vater sah mich an. Er musste gespürt haben, dass ich etwas verheimlichte.
›Streck deine Hände aus‹, sagte er, und als ich sie von mir streckte, ergriff er sie und starrte sie an. Er beugte sich sogar ganz nah zu ihnen hinunter und roch an den Fingerspitzen. Dann rannte er aus dem Haus.
Ich sah die Laterne, die er dabeihatte, schwankend auf dem Pfad zum Krematoriumsofen verschwinden.
Eine Stunde darauf kam er mit meinem Bruder zurück.«
»Und dann?«, fragte Kirow.
»Nichts«, erwiderte Anton. »Mein Bruder sagte, er habe die Tür selbst geschlossen. Natürlich war es nicht möglich, die Tür von innen zu schließen. Mein Vater musste Bescheid gewusst haben, tat aber so, als würde er meinem Bruder glauben. Wir mussten ihm nur schwören, nie wieder zum Ofen zu gehen.«
»Und Ihr Bruder, hat er niemals Rache geübt?«
»Rache?« Anton lachte. »Sein ganzes Leben, bis zu seinem Eintritt ins Finnische Regiment, war eine einzige Rache gewesen für das, was damals vorgefallen war.«
»Ich hätte Sie umgebracht«, sagte Kirow.
Anton sah ihn an. Sein Gesicht lag im Schatten. »Das wäre weniger grausam gewesen als das, was mein Bruder mir angetan hat.«
Pekkala, mittlerweile auf halber Höhe des Schachts, klammerte sich an das Seil.
Es war kalt hier unten, feucht und modrig, aber der Schweiß strömte ihm übers Gesicht. Die Wände schienen sich um ihn zu drehen, Erinnerungen an seinen Aufenthalt im Krematoriumsofen wurden wach.
Er erinnerte sich, tastend in der Dunkelheit die Finger ausgestreckt und über die stumpfen Zähne der Düsen an der Decke gestrichen zu
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