Roter Zar
marineblauen Zierleisten versehenen Waggons, jede Waggonseite war mit einem großen roten Stern geschmückt, in dem Hammer und Sichel prangten.
Vier Männer, die mit baumelnden Füßen auf dem Bahnsteig gesessen hatten, sprangen sofort auf, als sie den Wagen näher kommen sahen, griffen nach ihren Besen und fegten hektisch den Bahnsteig. Kurz hielten sie in ihrer Arbeit inne, als sie die Insassen des Wagens bemerkten. Die Männer schienen verwirrt und starrten dem Wagen hinterher, bis er außer Sichtweite war.
In der nachfolgenden Senke, durch die die Straße führte, tauchte sehr abrupt die zweite Straßensperre auf.
Kirow trat auf die Bremse, quietschend kam der Wagen zum Halten.
Die Wachmänner erwarteten sie bereits.
»Haben Sie angehalten?«, fragte der befehlshabende Wachmann.
»Nein«, erwiderte Kirow.
»Haben Sie mit jemandem gesprochen?«
»Nein.«
Kirow hielt ihm seinen Holzapfel hin. »Wollen Sie den wiederhaben?«, fragte er.
Der Wachmann nahm den Apfel entgegen, und als die Schranke hochging, trat Kirow so ungestüm aufs Gas, dass die Räder des Emka den Schotter aufwühlten.
Pekkala blickte zurück, als sie aus der Senke wieder hinausfuhren, und erkannte, warum diese Stelle gewählt worden war. Von den Eisenbahngleisen war die Sperre nicht einsehbar – falls es einem Ausländer überhaupt gelingen sollte, hinter den schwarzen Vorhängen einen Blick auf die Landschaft draußen zu erhaschen. Er fragte sich, was für eine Geschichte sich die Behörden für die zugezogenen Vorhänge ausgedacht hatten und ob die Journalisten aus dem Westen wirklich glaubten, was man ihnen zeigte.
Hinter der Sperre sah die Landschaft wieder so aus wie zuvor: Die Felder lagen brach, abgestorbene Obstbäume reckten ihr kahles Geäst in den Himmel, die vernachlässigten Hausdächer hingen durch.
Unvermittelt bog Kirow von der Straße ab.
Die beiden Brüder prallten gegeneinander und fluchten.
Kirow stieg aus, sobald der Wagen stand, ließ die Tür offen, stapfte hinaus aufs Feld und starrte mit dem Rücken zum Wagen in die leere Landschaft.
Bevor Pekkala danach fragen konnte, setzte Anton zu einer Erklärung an. »Nach der Revolution ordnete die Regierung die Kollektivierung der Landwirtschaft an. Die alten Großgrundbesitzer wurden erschossen oder nach Sibirien deportiert. Diejenigen aber, die daraufhin das Sagen hatten, verstanden nichts von der Landwirtschaft. Es kam zu Missernten und Hungersnöten. Ungefähr fünf Millionen Menschen sind verhungert.«
Pekkala atmete hörbar aus.
»Vielleicht waren es auch mehr als fünf«, fuhr Anton fort. »Genaue Zahlen wird niemand erfahren. Als die Welt von den Hungersnöten erfuhr, stritt unsere Regierung alles ab. Es wurden mehrere solcher Musterdörfer gebaut. Ausländische Journalisten werden eingeladen und im Land herumkutschiert. Es wird ihnen ordentlich zu essen aufgetischt, sie bekommen Geschenke, ihnen werden diese Musterdörfer präsentiert. Man sagt ihnen, die Hungersnot wäre nichts weiter als antisowjetische Propaganda. Wo diese Dörfer liegen, wird streng geheim gehalten. Mir ist erst klar geworden, dass wir hier auf eines stoßen werden, als wir schon da waren.«
»Meinst du, die Journalisten glauben, was sie sehen?«, fragte Pekkala.
»Genügend. Die Menschen zeigen Mitgefühl, wenn ein einzelner Mensch stirbt, wenn fünf, wenn zehn Menschen sterben. Eine Million Tote aber ist nur noch Statistik. Solange Zweifel bestehen, entscheiden sich die Menschen für das, was sich am leichtesten glauben lässt. Aus diesem Grund hatten während der Revolution dein Zar und du gegen uns keine Chance. Ihr wolltet euch immer einreden, dass die menschliche Gewalttätigkeit Grenzen hat. Der Zar ging in dem Glauben in den Tod, dass er von seinem Volk geliebt würde, wenn er es liebt. Schau, wohin dich das geführt hat.«
Pekkala sagte nichts. Er sah nur auf seine Hände, die sich langsam zu Fäusten ballten.
Dann kam Kirow zum Wagen zurück; er lächelte, wie Pekkala und Anton überrascht feststellten.
»Schön, Sie so beschwingt zu sehen«, sagte Anton schließlich, nachdem Kirow schon wieder losgefahren war.
»Warum nicht?«, entgegnete Kirow. »Verstehen Sie nicht, wie genial das ist, was wir gerade gesehen haben? Man hat uns am Institut gelehrt, dass es manchmal notwendig ist, die Wahrheit in einem anderen Licht darzustellen.«
»Sie meinen, zu lügen«, sagte Pekkala.
»Zeitweilig zu lügen«, erklärte Kirow. »Eines Tages, wenn der rechte Zeitpunkt
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