Roter Zar
retten wollte«, sagte Pekkala, »sondern den, der ihm eine Kugel in die Brust verpasst hat.«
Ihre Lippen zuckten. »Dann stimmt es also, was die Zeitungen schreiben?«
»Ja«, sagte Pekkala. »Der Zar ist tot.«
Wieder seufzte sie schwer. »Es gibt viele, die glauben, er hätte überlebt.«
»Möglich wäre es allerdings, dass eines der Kinder überlebt hat.«
Schwester Ania riss die Augen auf. »Möglich? Was heißt das? Bitte, Inspektor, hat eines der Kinder überlebt oder nicht?«
»Das untersuche ich noch, Schwester Ania. Deshalb bin ich hier bei Ihnen.«
»Wer?«, fragte sie. »Welches der Kinder?«
»Alexej.«
Sie rang um Fassung. »Der arme Junge. Er hat so viel durchmachen müssen.«
»Ja.«
Plötzlich beugte sie sich vor. »Und was glauben Sie, Inspektor Pekkala?«
»Meine Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«
»Nein!« Sie tätschelte ihm das Knie. »Was
glauben
Sie? Meinen Sie, er ist noch am Leben?«
»Möglich, ja«, flüsterte er kaum hörbar. »Und wenn der Zarewitsch wirklich noch am Leben sein sollte, könnte Ihr Offizier mir helfen, ihn aufzuspüren.«
»Sie finden ihn auf der Polizeidienststelle«, sagte Schwester Ania.
»Ist er eingesperrt?«, fragte Pekkala.
»Ganz im Gegenteil. Er leitet die Dienststelle. Sein Name lautet Offizier Kropotkin.«
»Kropotkin. Das wird dann nicht mein erstes Gespräch mit dem Polizeichef sein.«
»Umso besser«, sagte sie. »Auf den ersten Blick hinterlässt er nicht unbedingt einen vorteilhaften Eindruck.«
Schwester Ania begleitete Pekkala zum Klostereingang.
Wieder kamen sie an den Kisten mit den Habseligkeiten des Klosters vorbei. In welcher dunklen Lagerhalle würden sie weggeschlossen werden? Und was, sollten sie jemals wieder ans Tageslicht kommen, würde dann noch an ihre einstigen Besitzer erinnern? Und was würden die Behörden, die jetzt nichts als Lügen erzählten, dann wirklich zugeben?
Bevor sie aus dem kühlen Schatten des Gebäudes ins gleißende Licht des Innenhofs traten, legte ihm Schwester Ania die Hand auf die Schulter. »Wenn der Zarewitsch noch am Leben ist, versprechen Sie mir, dafür zu sorgen, dass ihm nichts zustößt. Er hat genug für Verbrechen gebüßt, die er nicht begangen hat.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte Pekkala.
Sie traten in die Sonne.
»Glauben Sie an Wunder, Inspektor Pekkala?«
»Ich neige eher nicht dazu«, erwiderte er.
»Vielleicht wäre es an der Zeit, dass Sie damit anfangen.«
An der Klostermauer lehnte ein altes Fahrrad. Es hatte einen rissigen Ledersattel, auf dem schwarzen Lack lag eine dicke Staubschicht, die dunklen Holzgriffe waren vom häufigen Gebrauch glatt gerieben und die Reifen abgefahren. Trotz seines Alters strahlte das Gefährt eine gewisse Würde aus, wie es Gegenständen eigen ist, die einen ein ganzes Leben lang begleitet haben.
Pekkala sah zum Eisentor hinüber und zu dem langen Weg zurück nach Swerdlowsk. Auf der Straße lastete ein heißer blauer Himmel, unter dem auch der gesprenkelte Schatten der Pappeln kaum für Abkühlung sorgen konnte.
Er starrte zum Fahrrad und stellte sich den kühlen Fahrtwind vor, wenn er den Berg hinunterrollen konnte, statt müde durch die Hitze zu stapfen.
Schwester Ania folgte seinem Blick. »Nehmen Sie es«, sagte sie. »Sonst packen es die Männer mit ein. Und wenn es jemals wieder aus dem Lager kommt, wird es uralt sein … aber das ist es ja jetzt schon. Nehmen Sie es bitte, und kein Wort mehr darüber.«
Pekkala stieg auf. Der alte Ledersattel war nicht so bequem, wie er es sich gewünscht hätte.
»Gut«, sagte Schwester Ania, »mal sehen, wie Sie sich damit anstellen. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn Sie sich den Hals brechen.«
Er drehte eine wacklige Runde auf dem Schotter. Es war Jahre her, dass er auf einem Rad gesessen hatte. Der Vorderreifen eierte stark, während Pekkala sich mühte, das Gleichgewicht zu halten.
»Vielleicht ist es ein Fehler gewesen, Ihnen das Rad zu überlassen«, sagte sie.
»Keineswegs«, versicherte ihr Pekkala, während er unsicher neben ihr zum Stehen kam.
Sie streckte ihm die Hand hin.
Pekkala ergriff die kleinen, zarten Finger.
Ihm war, als hätte er einen elektrischen Schlag abbekommen. Wie lange war es her, dass er die Hand einer Frau berührt hatte?
»Wir brauchen Sie«, sagte sie. »Verlassen Sie uns nie wieder.«
Pekkala öffnete den Mund, aber ihm versagte die Stimme.
Schwester Ania drückte ihm die Hand, bevor sie sie losließ und ins
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