Roter Zar
vonnöten.«
»Sie reden, als könnten mir Kugeln nichts anhaben«, sagte Pekkala. »Was nicht stimmt, wie ich Ihnen versichern darf.«
»Ich meine auch nicht Sie«, antwortete Kropotkin und deutete auf Pekkala. »Sondern das da.«
Kropotkin zeigte auf das Abzeichen, das Smaragdauge, das auf dem durchnässten, hochgestellten Revers zu sehen war. »Man kann Sie jederzeit töten, das Smaragdauge aber ist schon jetzt eine Legende. Darüber kann man nicht einfach so hinweggehen, und das wollen sie auch gar nicht. Sie brauchen Sie, Pekkala. Sie brauchen Ihre legendäre Unbestechlichkeit – genau wie der Zar sie gebraucht hat. Wer zu einer Legende wird, ist meist schon tot. Solange Sie also noch am Leben sind, sind Sie für die Machthaber genauso gefährlich und wertvoll. Je früher Sie verschwinden, umso sicherer werden die sich fühlen.«
»Dann werden sie nicht lange warten müssen«, sagte Pekkala. »Sobald dieser Fall gelöst ist, werde ich das Land verlassen. Für immer.«
Kropotkin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und klopfte sich mit dem Bleistift gegen den Daumen. »Ich hoffe, es kommt wirklich so, Pekkala. Aber bis es so weit ist, wird man alles tun, um Sie hierzubehalten, wo man Einfluss auf Ihr weiteres Schicksal nehmen kann. Und wenn ihnen das gelingt, wird alles verloren sein, wofür Sie je gearbeitet haben, und Sie und ich, wir stehen uns dann in diesem Krieg auf gegnerischen Seiten gegenüber.«
»Ich habe nicht den geringsten Wunsch, Sie zum Feind zu haben«, sagte Pekkala.
Kropotkin nickte. »Dann hoffen wir zu unser beider Wohl, dass Sie die richtige Entscheidung treffen, wenn es so weit ist.«
Die Tage vergingen, während Pekkala in seiner Zelle darauf wartete, dass das Verhör begann.
Einmal am Tag wurde das Essen über eine Klappe unterhalb des Gucklochs hereingeschoben. Er bekam eine Schale mit salziger Kohlsuppe und einen Becher Tee. Schale wie Becher bestanden aus einem so weichen Material, dass er sie in der Faust zerdrücken konnte.
Nach dem Essen begleiteten ihn zwei Wärter zur Toilette. Einer stellte sich vor ihn, der andere hinter ihn. Der Wärter hinter ihm sagte: »Nur einen Schritt nach links oder rechts …« Er beendete den Satz nicht. Das war nicht nötig, er musste Pekkala nur mit seinem kalten Gewehrlauf gegen die Wange stoßen.
Der Wärter vor ihm marschierte los. Pekkala spürte, wie er vom Wärter hinter ihm leicht angeschoben wurde.
Alle Böden im Gefängnis waren mit dicken grauen Teppichen ausgelegt. Die Stiefel der Wärter waren mit Filz besohlt. Abgesehen von ihren leisen Befehlen herrschte in der Butyrka vollkommene Stille.
Sie führten ihn durch einen fensterlosen Gang mit vielen Türen zu einem Raum mit einem Loch in der Mitte des Bodens, neben dem ein Kübel Wasser stand.
Kurz darauf ging es wieder zurück in seine Zelle.
Er konnte nicht schlafen. Im besten Fall fiel er in eine Art Halbbewusstlosigkeit. Seine Knie, die er gegen die Tür drückte, wurden immer wieder taub. Er hatte kein Gefühl mehr in den Beinen.
Auf das Warten war er nicht vorbereitet gewesen. Es zehrte an den Nerven, bis diese zu zerreißen drohten.
Ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt wusste er bald nicht mehr, wie lange er schon hier war. Nach jeder Essensausgabe ritzte er mit dem Daumen eine kleine Kerbe in die Wand. Er entdeckte ähnliche Kratzer, die ebenfalls von Fingernägel zu stammen schienen. Er fand verschiedene Reihen, eine davon mit über hundert Kerben. Ihr Anblick jagte ihm Angst ein. Er würde keine hundert Tage in dieser Zelle aushalten.
Am, wie er glaubte, einundzwanzigsten Tag in der Butyrka wurde er von den Wärtern in einen anderen Raum gebracht. Darin stand ein kleiner Metalltisch mit zwei Stühlen.
Seit der Einlieferung ins Gefängnis war er nackt gewesen. Jetzt reichte ihm einer der Wärter beigefarbene Kleidung aus dünner, modrig riechender Baumwolle. Die Hose konnte man unten an den Knöcheln zuschnüren, nicht aber oben am Bund. Von nun an musste er immer mit einer Hand die Hose festhalten.
Die Wärter verließen den Raum und schlossen hinter sich die Tür.
Eine Minute darauf trat ein Offizier mit einer schmalen Aktentasche ein. Er war von mittlerer Größe, hatte ein pockennarbiges, sommersprossiges Gesicht, gelbgrüne Augen und dichtes, schwarzes Haar. Die Uniform schien ihm wie angegossen zu passen, aber er machte nicht den Eindruck, als fühlte er sich wohl darin. Pekkala schätzte, dass er sie noch nicht lange trug.
Der Mann öffnete seine
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