Roter Zar
Klostergebäude zurückkehrte.
Weit unten am Fuß des Hügels gabelte sich der Weg. Rechts ging es in die Stadt, links führte der Weg vorbei an einem von Binsen und Gräsern umstandenen Teich und weiter zu einem blassgrünen Gerstenmeer.
Sobald Pekkala das Tor hinter sich hatte, fiel der Weg steil ab. Die Schwerkraft trieb ihn voran, ohne dass er in die Pedale treten musste. Tränen traten ihm in die Augen, der Fahrtwind rauschte ihm laut in den Ohren. Plötzlich musste er zu seiner eigenen Überraschung lauthals loslachen.
Als das Rad so schnell wurde, dass der Hinterreifen zu flattern begann, zog er leicht am Bremshebel. Aber er wurde nicht langsamer. Und erst jetzt, bei genauerem Hinsehen, bemerkte er, dass die alten Gummibremsklötze in Fetzen herunterhingen.
Trotzdem lachte er, auch wenn er nicht wusste, warum.
Er bremste stärker, und kurzzeitig verringerte sich die Geschwindigkeit. Aber dann flogen die Reste der beiden Bremsklötze ganz weg. Er drehte sich kurz zur hinteren Bremse um. Der Seilzug fehlte dort völlig.
Er brüllte vor Lachen, mittlerweile sirrten die Räder.
Pekkala hielt sich fest, so gut er konnte. Die Bäume huschten an ihm vorbei.
Am Fuß des Hügels klammerte er sich an den Lenker, als ginge es um sein Leben, und steuerte nach links. Der Weg wurde flacher. Alles schien gut zu laufen. Er beglückwünschte sich schon, als er mit einem Mal hinter sich einen lauten Knall hörte, und im gleichen Augenblick riss es ihn nach links, und er wurde durch das hohe Gras am Straßenrand katapultiert.
Kurz glaubte er zu fliegen, als würden ihn kreisende Räder in den Himmel hinauftragen. Eine Sekunde später purzelte er, bekränzt mit Butterblumen, Gänseblümchen und purpurblütigen Wickeranken, geradewegs über den Lenker hinweg in den Teich.
Im ersten Moment blieb er einfach mit dem Gesicht nach unten liegen. Flackernd sah er noch hinter den geschlossenen Lidern die Bäume, an denen er vorbeigesaust war.
Dann richtete er sich im Schlamm auf. Laichkraut hing an seinem Mantel wie grünes Konfetti, aufgewühlter Schlick breitete sich um ihn aus.
Als er unter der Last des schweren, vollgesogenen Mantels das Rad ans Ufer schob, kam ihm eine Erinnerung aus seiner Kindheit in den Sinn: Anton und er zogen Schlitten hinter sich her und ächzten in ihren schweren Wintersachen. Den steilen Hang in der Nähe ihres Hauses hatten sie im Winter zum Schlittenfahren genutzt. Im Sommer wurden dort von den Waldarbeitern die geschlagenen Stämme zum Fluss hinuntergerollt, auf dem sie zum Sägewerk in der Stadt geflößt wurden. Im Winter aber hatten er und Anton den Hügel ganz für sich allein. Es war noch zu der Zeit, bevor sich alles zwischen ihnen geändert hatte – vor dem Krematoriumsofen, bevor Anton dem Finnischen Garderegiment beigetreten war. Seitdem war die Kluft zwischen ihnen immer tiefer geworden. Ob sie jemals wieder ein Verhältnis wie damals haben konnten? Dazu wäre ein Wunder nötig, überlegte er. Vielleicht hatte Schwester Ania doch recht. Vielleicht sollte er langsam anfangen, an Wunder zu glauben.
»Regnet es?«, fragte Offizier Kropotkin, der hinter seinem Schreibtisch saß, als hätte er sich seit ihrer letzten Begegnung nicht vom Fleck gerührt. Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und sah aus dem Fenster zum blauen Himmel.
»Nein«, erwiderte Pekkala. »Es regnet nicht.«
Kropotkin sah wieder zu Pekkala. »Warum tropfen Sie dann meinen Boden voll?«
»Ich war im Ententeich.«
»Sie drehen aber auch wirklich jeden Stein um.«
Pekkala zog seinen Notizblock heraus und schlug ihn auf. Wieder fielen ein paar Tropfen zu Boden. »Ich habe ein paar Fragen«, sagte er.
Kropotkin stieg die Zornesröte ins Gesicht, als Pekkala von seinem Gespräch mit Schwester Ania berichtete, schließlich sprang er von seinem Stuhl auf und brüllte: »Das reicht! Wenn alle Bräute Christi so geschwätzig sind wie Schwester Ania, hoffe ich schon um seinetwillen, dass Jesus im hohen Alter taub wurde! Wenn sie wüsste, in welche Schwierigkeiten sie mich damit gebracht hat!«
»In gar keine«, erwiderte Pekkala.
»Und was wollen Sie jetzt von mir?«, fragte Kropotkin.
»Warum hat der Zar Ihnen gesagt, dass er nicht mehr befreit werden wollte?«
»Das hat er nicht gesagt. Er hat mir befohlen, keinen Befreiungsversuch zu unternehmen.«
»Und warum hat er das getan?«
»Vielleicht hat er gehört, was seinem Bruder widerfahren war, dem Großfürsten Michail. Der wurde in einem anderen Landesteil
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