Roter Zar
Aktentasche und nahm den Webley heraus, den Pekkala bei seiner Verhaftung in Vainikkala bei sich gehabt hatte. Der Mann hielt die Waffe hoch und begutachtete sie. Dabei kam er mit dem Daumen zufällig an den Hebel, der den Rahmen nach oben aufklappen ließ, so dass die Patronen in der Trommel offen vor ihm lagen. Der Mann schreckte zusammen und hätte fast den Revolver fallen lassen.
Pekkala musste sich zusammenreißen, um nicht vorzustürzen und den Webley aufzufangen.
Der Mann erwischte die Waffe noch. Eiligst legte er sie wieder in die Aktentasche. Als Nächstes zog er das Smaragdauge heraus und drehte es hin und her, damit der Edelstein das Licht einfing. »Ihre Feinde nennen Sie das Ungeheuer des Zaren.« Der Mann legte das Abzeichen in die Tasche zurück. »Aber Sie kommen mir nicht wie ein Ungeheuer vor.« Zum Schluss nahm er Pekkalas Buch zur Hand. Er blätterte es durch, starrte verständnislos auf den Text des Kalevala und ließ es wieder in die Tasche gleiten.
Er räusperte sich mehrmals, bevor er etwas sagte. »Wussten Sie, dass sich Finnland für von Russland unabhängig erklärt hat?«
Pekkala hatte es nicht gewusst. Die Neuigkeiten entsetzten ihn. Wie musste sich sein Vater fühlen, der dem Zaren immer so treu ergeben gewesen war?
»Wie Sie sehen«, fuhr der Mann fort, »wissen wir aufgrund der Gegenstände, die wir in Ihrem Besitz gefunden haben, wer Sie sind, Inspektor Pekkala.« Seine Stimme war so leise, dass er beinahe furchtsam klang.
»Georgien«, erwiderte Pekkala.
»Wie bitte?«
»Georgien«, wiederholte Pekkala. »Ihr Akzent.«
»Ach, ja. Ich komme aus Tiflis.«
Jetzt fiel es Pekkala wieder ein. »Dschugaschwili«, sagte er. »Josef Dschugaschwili. Sie haben
1907
eine Bank überfallen, wobei über vierzig Menschen ums Leben gekommen sind.« Er konnte es kaum fassen, dass ein Mann, den er einst als Verbrecher gejagt hatte, ihm jetzt auf der anderen Seite des Verhörtisches gegenübersaß.
»Das stimmt«, sagte Dschugaschwili, »nur dass ich jetzt Josef Stalin heiße und kein Bankräuber mehr bin. Jetzt gehöre ich dem Rat der Volkskommissare an.«
»Und jetzt sind Sie hier, um mir einen Rat zu geben?«
»Ja. Einen Rat, den Sie hoffentlich annehmen werden. Ein Polizist mit Ihrer Erfahrung könnte für uns sehr nützlich sein. Viele Ihrer ehemaligen Kollegen haben sich bereit erklärt, für uns zu arbeiten. Natürlich erst, nachdem Sie uns sämtliche Einzelheiten ihrer früheren Tätigkeit mitgeteilt haben.« Er musterte Pekkala, dann streckte er einen seiner kurzen Finger aus, als wollte er die Windrichtung prüfen. »Aber ich glaube nicht, dass Sie zu denen gehören.«
»Nein«, erwiderte Pekkala.
»Nun, mit nichts anderem müsste ich rechnen, hatte man mir erzählt«, sagte Stalin. »Sie verstehen, dass die Dinge dann einen anderen Verlauf nehmen.«
A ls Pekkala am Abend ins Ipatjew-Haus zurückkehrte, kochte Kirow in der Küche gerade Kartoffeln. Die Fenster waren stark beschlagen.
Pekkala setzte sich an den Tisch, verschränkte die Arme und ließ den Kopf auf die Hände sinken. »Heute keine Geschäfte mit Majakowski?«
»Majakowski ist ein ausgefuchster Halunke«, erwiderte Kirow. »Er gibt uns nur so viel, um uns den Mund wässrig zu machen, dann lässt er uns am langen Arm verhungern, und seine Preise gehen derweil durch die Decke.«
»Dann wird er für seine Informationen demnächst wohl auch mehr verlangen.«
»Genau von diesen Informationen spreche ich«, sagte Kirow. »Aber ich weiß, wie man mit solchen Typen umgeht.«
»Ach ja?«
Kirow nickte. »Ja. Man macht ihnen ein Geschenk.«
»Warum das denn?«
»Weil sie es nicht erwarten. Leute wie Majakowski haben keine Freunde, sie brauchen auch keine. Es kommt nicht oft vor, dass ihnen jemand etwas schenkt, und wenn, dann wirft es sie völlig aus der Bahn.«
»Sie sind ja gerissener, als Sie aussehen«, murmelte Pekkala.
»Deshalb komme ich damit auch immer durch.« Kirow seufzte. »Aber ich war nicht gerissen genug, um in der Stadt mehr als nur ein paar Kartoffeln aufzutreiben.«
»Haben Sie überhaupt etwas in der Stadt in Erfahrung bringen können?«, fragte Pekkala.
»Nur, dass die ganze Stadt verrückt geworden ist.« Kirow rührte mit dem Kochlöffel die Kartoffeln im kochenden Wasser um. »Fast jeder, mit dem ich gesprochen habe, behauptet, er hätte noch den einen oder anderen Romanow gesehen. Nie die ganze Familie zusammen. Immer nur einen. Man könnte glatt glauben, der Zar und seine Frau und die
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