Roter Zar
ich davon überzeugt bin, dass Sie wirklich der sind, der Sie zu sein vorgeben, können wir uns in aller Höflichkeit unterhalten. Bis dahin beantworten Sie die Fragen.«
»Es gibt nach wie vor Leute in der Stadt, die den Romanows wohlgesinnt sind«, sagte Alexej.
Kropotkin, dachte Pekkala. Er musste die ganze Zeit gewusst haben, wo Alexej sich versteckt hielt.
»Exzellenz«, begann Pekkala.
»Lassen Sie diese Anrede!«, blaffte Kirow. Es war das erste Mal, dass er Pekkala gegenüber die Stimme erhob.
»Er hat recht«, sagte Alexej. »Nennen Sie mich einfach bei meinem Namen.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen.
Pekkala setzte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Wir haben Ihre Eltern gefunden, Alexej. Und Ihre Schwestern. Wie Sie wahrscheinlich wissen, sind Sie der einzige Überlebende.«
Alexej nickte. »Das hat man mir gesagt.«
»Wer hat es Ihnen gesagt?«, fragte Kirow.
»Lassen Sie ihn reden!«, sagte Pekkala.
»Die Leute, die sich um mich gekümmert haben«, antwortete Alexej.
»Erzählen Sie alles von Anfang an«, drängte Pekkala. »Was ist in der Nacht geschehen, in der Sie aus diesem Haus weggebracht wurden?«
»Wir waren unten im Keller«, sagte Alexej. »Ein Mann war gekommen, um uns zu fotografieren. Wir waren es schon gewohnt. Es sind so viele Bilder gemacht worden seit unserer Internierung in Zarskoje Selo und danach in Tobolsk. Er wollte gerade seine Aufnahme machen, als ein Mann in einer Armeeuniform hereingestürzt kam und angefangen hat zu schießen.«
»Haben Sie ihn gekannt?«, fragte Pekkala.
»Nein«, erwiderte Alexej. »Die Wachen haben sich ständig abgewechselt, es waren so viele, seitdem unsere Familie in Petrograd unter Hausarrest gestellt worden war. Der Fotograf hat zwei helle Scheinwerfer aufgebaut, die auf uns gerichtet waren, deshalb konnte ich ihn kaum sehen, und gleich darauf hat er auch schon das Feuer eröffnet. Danach war alles voller Rauch. Mein Vater hat geschrien. Meine Schwestern haben gewimmert. Dann muss ich ohnmächtig geworden sein. Als Nächstes weiß ich nur, dass der Mann mich die Treppe hinaufgetragen hat. Mir war nicht gut. Und ich war sehr schwach. Ich habe mich gewehrt, aber er hat mich so fest gepackt, dass ich mich kaum bewegen konnte. Er hat mich in den Hof getragen und mich gezwungen, vorn in einem Laster Platz zu nehmen. Er sagte, wenn ich versuchen sollte zu fliehen, würde ich genauso enden wie die anderen. Ich hatte viel zu viel Angst, um nicht zu gehorchen. Daraufhin ist er mehrmals ins Haus, und jedes Mal hat er jemanden herausgetragen. Und als ich gesehen habe, wie der Kopf nach unten hing oder die Arme hin und her schlenkerten, wusste ich, dass sie tot waren. Dann hat er alle auf den Laster geladen.«
»Und dann?«
»Er hat sich hinters Steuer gesetzt, und wir sind losgefahren.«
»In welche Richtung?«
»Das weiß ich nicht. Es war das erste Mal, dass ich das Haus verlassen habe. Zu beiden Seiten der Straße war Wald, es war finster. Wir haben vor einem Haus gehalten, die Leute drinnen haben schon auf uns gewartet. Sie sind zum Wagen gekommen, und der Fahrer hat mir gesagt, ich soll aussteigen, und kaum hatte ich die Füße auf dem Boden, ist er schon wieder losgefahren. Ich habe ihn nie mehr gesehen und seinen Namen nie erfahren.«
Pekkala lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine verkrampfte Nackenmuskulatur lockerte sich langsam. Er war jetzt überzeugt, dass wirklich Alexej vor ihm saß. Die Einzelheiten passten exakt zu dem, was er von anderen erfahren hatte. Obwohl so viel Zeit vergangen war seit seiner letzten Begegnung mit dem Zarewitsch, war die Ähnlichkeit unverkennbar. In allem, den Augen, Wangen, dem Kinn, glaubte er die Gesichtszüge des Zaren zu erkennen.
Nur Kirow war noch nicht überzeugt. »Diese Leute, die sich um Sie gekümmert haben?«, fragte er. »Wer waren sie?«
Alexej sprach nun hastiger, als wäre es ihm wichtig, so viel wie möglich zu erklären. »Es war ein älteres Ehepaar. Der Mann hieß Semjon, die alte Frau Trina. Ihren Nachnamen habe ich nie erfahren. Sie sagten mir nur, dass sie Freunde seien und dass mein Leben verschont wurde, weil ich unschuldig war. Sie haben mir Essen und Kleidung gegeben. Ich bin einige Monate bei ihnen geblieben.«
Es überraschte Pekkala nicht, das zu hören. In den Augen des russischen Volkes hatte Alexej nie die Schuld auf sich geladen, die seinen Eltern angelastet wurde. Die Reserviertheit der Schwestern und vor allem der Mutter war in der
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