Roter Zar
worauf sich winzige Glassplitter in die Fingerkuppen bohrten.
Kirow folgte ihm. »Sie müssen sich hinlegen«, sagte er.
Pekkala achtete nicht auf ihn. Am Straßenrand blieb er stehen.
Wo Majakowski gestanden hatte, befand sich nur noch ein schwarzer Kreis auf den Pflastersteinen. In den zerfledderten Ästen darüber hingen Fetzen von Majakowskis Kleidung.
Kirow nahm ihn am Arm. »Wir sollten reingehen«, sagte er sanft und beharrlich zugleich.
Um Pekkala drehte sich alles. Er starrte auf die versengten Blätter, die Glasscherben, das zerstörte Mauerwerk. Mit dem Zeh stieß er gegen etwas. Er sah zu Boden. Dort lag etwas, das aussah wie der abgebrochene Henkel eines weißen Porzellankrugs. Er hob ihn auf. Die harte Oberfläche war glitschig. Er brauchte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass er einen Teil von Majakowskis Kiefer in der Hand hielt.
»Kommen Sie«, sagte Kirow.
Pekkala sah zu dem jungen Kommissar, als könnte er sich nicht mehr daran erinnern, wer er war. Dann ließ er sich von ihm ins Haus führen.
In der folgenden halben Stunde holte Kirow mit einer feinen Pinzette Glassplitter aus Pekkalas Gesicht, wo sie in winzigen blutigen Poren vor sich hin glitzerten.
Kropotkin stand in der Ecke und sah nervös in Pekkalas Richtung. »Kann man mit ihm schon reden?«, fragte er.
»Ich kann reden«, erwiderte Pekkala.
»Gut«, sagte Kropotkin. »Hören Sie, ich habe angeboten, Ihnen einen Polizisten zur Bewachung abzustellen, aber dieser Tschekist« – er zeigte auf Anton – »meint, das wäre nicht nötig.«
»Wir wissen nicht, von wem der Sprengsatz stammt«, sagte Anton.
»Na, von mir jedenfalls nicht, falls Sie darauf anspielen wollen«, entgegnete Kropotkin mit rotem Gesicht.
»Ich habe den beiden gesagt, dass wir nicht mehr hätten zurückkommen sollen«, sagte Anton.
»Er hat recht«, schaltete sich Kirow ein. »Wir brauchen niemanden, der uns bewacht.«
»Und warum nicht?«, fragte Kropotkin.
»Weil wir gleich morgen aufbrechen. Wir fahren nach Moskau und erstatten Bericht. Und dann, wenn man uns lässt, kehren wir mit einer ganzen Kompanie Soldaten zurück.«
»Das wird zu lange dauern.« Pekkala stand auf. »Wir haben noch nicht gefunden, was wir suchen.«
Kirow legte Pekkala die Hände auf die Schultern. »Nein«, sagte er, »aber das, was wir suchen, hat uns gefunden. Sie haben uns davor gewarnt. Genauso ist es gekommen.«
»Wir waren nicht genügend vorbereitet«, sagte Pekkala. »Für das nächste Mal treffen wir Vorkehrungen.« Er stand auf und ging ins vordere Zimmer. Das einfallende Sonnenlicht spiegelte sich in den über den Boden zerstreuten Glasscherben. Die Asche, die Pekkala aus dem Kamin entfernen wollte, war im ganzen Zimmer verteilt worden, und die Tapete sah aus, als hätte sich eine riesige Katze mit ihren Krallen daran zu schaffen gemacht. Er ging zur Wand, aus der ein Gegenstand ragte, und zog ihn heraus. Es war Kirows Pfeifenkopf, der von der Druckwelle wie ein Nagel in die Wand geschlagen worden war.
Plötzlich stand Anton neben ihm.
»Bitte«, drängte er, »wir müssen von hier verschwinden. Sofort.«
»Nein«, erwiderte Pekkala. »Dazu ist es zu spät.«
Mitten in der Nacht wachte Pekkala auf, weil er keine Luft mehr bekam.
Kirow war über ihn gebeugt und hatte ihm eine Hand auf Mund und Nase gelegt. Mit der anderen deutete er ihm an, leise zu sein.
Pekkala nickte.
Langsam nahm Kirow die Hand weg.
Pekkala setzte sich auf und schnappte nach Luft.
»Jemand ist im Haus«, flüsterte Kirow.
Anton stand bereits mit gezückter Waffe in der Tür zum Flur und spähte in den Schatten. Dann drehte er sich zu Pekkala und Kirow um. »Im Keller«, sagte er.
Ein Schauder lief Pekkala über den Rücken, wenn er nur daran dachte, dass sich jemand dort unten in all dem Staub und geronnenen Blut aufhielt. Er zog den Webley-Revolver. Die drei Männer machten sich auf den Weg.
Barfuß stieg Pekkala langsam die Holzstufen hinunter, die unter seinem Gewicht leise ächzten.
Hinter ihm ging Kirow und trug eine der Laternen.
»Erst anzünden, wenn ich es sage«, flüsterte Pekkala.
Als sie unten angekommen waren, hörte Pekkala nichts außer dem Atem von Anton und Kirow. Aber dann bemerkte er, dasss jemand weinte. Es kam ganz deutlich aus dem Raum, in dem die Morde stattgefunden hatten.
Die Tür stand offen, wie Pekkala erkannte, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Gedämpft war das Weinen zu hören, fast so, als käme es direkt aus
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