Rotes Gold: Ein kulinarischer Krimi. Xavier Kieffers zweiter Fall
führten dazu, dass er die Sirene beinahe überhört hätte. Das Tatütata waberte vom Eingang herüber und erstarb dann plötzlich. Erst in diesem Moment wurde ihm schlagartig klar, dass, wer auch immer Hashimoto gefoltert und ermordet hatte, dies bereits vor einigen Stunden getan haben musste, denn der Leichnam fühlte sich kalt an. Also musste es der Mörder gewesen sein, der ihm von Toros Handy die SMS geschickt und dann die Polizei gerufen hatte. Dass sie erst jetzt eintraf, lag wohl daran, dass er etwas vor der vereinbarten Zeit hier gewesen war. Kieffer suchte nach der Tür zur Küche und fand sie direkt hinter der Bar. Wenige Sekunden später verließ er das »Banzai« durch eine Seitentür, die auf die menschenleere Rue des Thermopyles führte. Er hörte hinter sich Fußgetrappel. Statt sich umzusehen verschwand er mit einigen schnellen Schritten in der namenlosen Seitengasse, die von der mittelalterlichen Straße abzweigte. An deren Ende lugte er um die Ecke und sah einen Polizeiwagen vorbeirasen. Der Koch ging weiter, bis er die Metrostation Alésia erreichte, fuhr die Rolltreppe hinunter und stieg in den erstbesten Zug. Er setzte sich und starrte auf den Linienplan,um herauszufinden, wohin diese U-Bahn fuhr. Doch das sonst vertraute Gewirr aus farbigen Linien und Punkten sprach nicht zu ihm. Und so blieb er einfach sitzen, das Rattern der Waggons und die blechernen Durchsagen ignorierend, in seinen Händen fest Toros Buch umklammert.
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Erst als sie Montparnasse-Bienvenüe passierten, wurde ihm bewusst, dass der altersschwache Zug sich auf der Clignancourt-Linie gen Norden bewegte. Sein Schluchzen war verstummt, doch noch immer liefen Tränen seine Wangen herunter. Toro war sein Freund gewesen. Bei Weitem kein so enger wie etwa Pekka Vatanen, aber einer, auf den er sich immer hatte verlassen können. Nun war er tot, ermordet in seiner eigenen Küche. Als sie Saint-Germain-des-Prés erreichten, waren Kieffers Tränen getrocknet und die Schockstarre wich allmählich aus seinen Gliedern. Stattdessen erfasste ihn ein Gefühl der Verzweiflung. Toro könnte noch am Leben sein, wenn er ihn nicht in diese Sache hineingezogen hätte. Den Japaner als Strohmann zu benutzen, ihn einzuspannen, um an den Lusobourges heranzukommen – all das war schließlich seine Idee gewesen. Hatte Toro sterben müssen, weil er ein Kompagnon des überall herumschnüffelnden Luxemburger Kochs war? Führte die Spur zu Trebarca Silva oder war da noch jemand anderes mit von der Partie, in diesem Spiel um tiefgefrorenen Fisch, der offensichtlich mehr wert warals ein Menschenleben? Hatte Hashimoto Informationen besessen, die so gefährlich waren, dass er ihretwegen hatte sterben müssen?
Kieffer durchblätterte erneut das japanische Buch, das auf seinem Schoß ruhte. Zwar konnte er es nicht lesen, ihm fiel nun aber auf, dass jemand an verschiedenen Stellen mit einem roten Kuli Sätze unterstrichen hatte. Die meisten Unterstreichungen fanden sich im hinteren Teil, bei dem es sich, wie Kieffer nach einigem Hin- und Herblättern zu verstehen meinte, in Wahrheit um den vorderen handelte: Die fettgedruckte Titelüberschrift, die bibliografischen Angaben und das Inhaltsverzeichnis befanden sich nämlich allesamt auf den letzten Seiten. Er vermutete deshalb, dass man das Buch von hinten nach vorne las. Das Lesezeichen in der Mitte deutete darauf hin, dass sein Freund möglicherweise nicht mehr dazu gekommen war, den Rest zu lesen. Kieffer drehte das Buch nun um, sodass sich der Rücken rechts befand und begann, das Werk erneut durchzublättern. Dabei sah er, dass des Öfteren fünf aufeinanderfolgende Schriftzeichen umkringelt waren:
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Er blätterte weiter und stieß auf eine Bildtafel, die ihm zuvor nicht aufgefallen war. Sie zeigte vier junge Männer in gestärkten weißen Kitteln. Alle trugen blaue Baseballkappen, über deren Schirmen große Plastikkarten mit japanischen Schriftzeichen festgenietet waren. Zwei von ihnen hatten lange Messer oder Schwerter in der Hand, ähnlich jenem, das Toro neulich mitgebracht hatte, um den Bluefin zu zerlegen. Im Hintergrund sah man einen Fischgroßmarkt, vermutlich irgendwo in Japan. Der Bildausschnitt deutete darauf hin, dass dieHalle riesig war, somit konnte es sich eigentlich nur um den Tsukiji in Tokio handeln. Alle vier Männer lächelten direkt in die Kamera, außerdem posierten sie vor einem Fisch, der zu ihren Füßen lag. Es handelte sich um einen kapitalen Thun, einen der größten,
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