Rotes Gold: Ein kulinarischer Krimi. Xavier Kieffers zweiter Fall
den Wänden handelte, war jedoch in all den Jahren, die er in Paris verbracht hatte, nie hier gewesen. Als er die Thermopyles betrat, war ihm sofort klar, dass er schon früher hierher hätte kommen sollen. Es handelte sich um ein schmales mittelalterliches Gässchen, das für Autos gesperrt war – ohnehin hätte sich höchstens ein Motorroller durch das enge, mit abgelaufenen Granitsteinen gepflasterte Sträßchen hindurchzwängen können. Die Fassaden sahen aus, als habe man sie seit der Guillotinierung Marie-Antoinettes nicht mehr renoviert und nur dann etwas ausgebessert, wenn es absolut unvermeidlich gewesen war. Die Rue des Thermopyles beherbergte, soweit er sehen konnte, ausschließlich Wohnhäuser. Er sah weder Einzelhandelsgeschäfte noch Restaurants. Deshalb lief er die lange Gasse weiter entlang, bestaunte einen prächtigen Oleander, den die Bewohner an Drähten von einem Dach zum anderen geführt hatten und rauchte dabei eine Ducal. Die Gasse bestand aus zwei versetzten, geraden Passagen, die durch ein s-förmiges Stück miteinander verbunden waren, von dem ein weiteres Gässchen im rechten Winkel abging, so schmal, dass es anscheinend nicht einmal einen Namen hatte. Erst als er fast am Ende angekommen war, sah er Hashimotos Restaurant. Es war das Eckhaus, an dem das Gässchen auf eine größere Straße traf. Er ging um die Ecke und musterte das Schild über der Tür. Es war deutlich weniger farbenfroh als das von Toros alter Sushibar und bestand aus braunem Naturholz, in das mit einem heißen Eisen Lettern eingebrannt worden waren. »Banzai Robata – BBQ Japonais« stand darauf. Kieffer probierte die Eingangstür. Sie war offen. Er trat ein, und bereits zum zweiten Mal an diesem Tag machte seine Nase Meldung, bevor er etwas sah.
Als er den beißenden Gestank wahrnahm, war ihm sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Nun sah er auch die Rauchschwaden, die ihm aus dem hinteren Teil des Restaurants entgegenwaberten. Dort, hinter mehreren Tischreihen und einer Bar aus dunklem Holz, stand der Robata, jener monströse Grill, den Hashimoto zum Dreh- und Angelpunkt seines neuen Restaurants gemacht hatte. Von der Tür aus konnte er sehen, dass der Rost voll war. Es lagen Aale, Steaks und halbierte Zucchinidarauf, die offenbar schon seit Längerem vor sich hinbrutzelten und bereits stark verkohlt waren. Als er näher kam, sah er, dass die Grillschale übervoll mit weiß glühender Kohle und ein Teil des Grillguts offenbar durch den Rost ins Feuer gerutscht war.
Der Gestank war entsetzlich. Rasch ging er auf die Bar zu, wobei er mit dem Fuß gegen etwas stieß. Als er nach unten schaute, sah er, dass es eine bunte Fahrradkuriertasche war, die jemand auf den Boden geworfen hatte. Daneben lagen eine Schirmmütze sowie ein Buch. Kieffer bückte sich und griff danach. Es war in dunkelgrünen Stoff gebunden. Auf dem Rücken waren in Goldlettern asiatische Schriftzeichen eingeprägt. In der Mitte steckte ein Post-it als Lesezeichen. Er schlug das Buch an der markierten Stelle auf und erblickte lange senkrechte Reihen japanischer Kanji. Er blätterte weiter und fand in der Mitte einige Fototafeln, die Thunfische zeigten und Japaner, die dabei waren, die mächtigen Tiere zu zerschneiden.
Als er gerade wieder aufstehen wollte, entdeckte er eine Brieftasche, die unter einem der Tische lag. Ihr Inhalt war auf dem Boden verteilt worden. Kassenbelege, Euroscheine und Kleingeld lagen verstreut. Daneben fand er eine weiße Plastikkarte mit japanischen Schriftzeichen, die wie ein Ausweisdokument oder ein Führerschein aussah. Das Foto darauf zeigte Toro. Kieffer sprang auf und lief hinter die Bar. Er fand ihn am Fuße des Robata. Mit dem Gesicht zum Boden lag Kaneda Hashimoto neben der Kochstelle. Sein dürrer Oberkörper war nackt, zahllose winzige Stückchen weißglühender Kohle waren aus der übervollen Glutschale auf ihn herabgeregnet und hatten kleine schwarze Löcher in seine knallbuntenTätowierungen gebrannt. Kieffer kniete sich hin und drehte den Körper des Japaners um. Tot schien er noch weniger zu wiegen als lebend. Als er Gesicht und Oberkörper seines Freundes sah, entfuhr ihm ein Schluchzen. Bauch, Brustpartie und Gesicht waren mit langen schwarzen Striemen und Blasen übersät, mit schwersten Verbrennungen, deren Form identisch war mit den langen gusseisernen Stangen des Robata. Die Augen des Japaners waren weit aufgerissen, verrieten Entsetzen.
Sein eigenes Schluchzen und das Knacken und Zischen des Robata
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