Rotes Gold: Ein kulinarischer Krimi. Xavier Kieffers zweiter Fall
piesackte. Selbst nach einem ausgiebigen Mittagsmahl konnte es dem Luxemburger bereits am frühen Nachmittag passieren, dass er auf Geheiß seines Bauchs nachlegen musste. Was die Sache zusätzlich verkomplizierte, war der Umstand, dass diese aus heiterem Himmel über ihn hereinbrechende Gluscht nie unbestimmter, sondern stets äußerst konkreter Natur war. Manche Menschen konnten dem Monster in ihrem Bauch irgendetwas hinwerfen – Bratwurst mundete ebenso wie Camembertbaguette, Bückling kam so gelegen wie ein Stück Sachertorte. Andere gierten nach bestimmten Geschmacksempfindungen – süß, sauer, scharf oder salzig. Kieffers Heißhunger hingegen war äußerst spezifisch. Sein Magen forderte, schnellstens ganz bestimmte Gerichte herbeizuschaffen – oft solche, die sich selbst in einer gut sortierten Küche nicht ohne Weiteres auftreiben ließen. Kürzlich hatte er nach einer zwölfstündigen Küchenschicht plötzlich unbändigen Appetit auf Cachupa Rica verspürt, das Nationalgericht der Kapverden. Da es in Luxemburg etliche Menschen aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie gab, war es eigentlich gar nicht so schwierig, westafrikanisches Essen aufzutreiben. Während der kapverdische Bohneneintopf in seiner Fantasie zu dampfen begonnen hatte, war ihm allerdings klar geworden, dass nur das Cachupa eines bestimmten Restaurants in Esch seinen Hunger würde stillen können. Ohne zu zögern war er hingefahren, denn er wusste, was die Alternative war: Die ganze Nacht wach zu liegen und an das entgangene Mahl zu denken. Warum sein Magen so tickte, wusste er nicht. Vielleicht hatten die vielen Jahre in diversen Sternerestaurants da untenirgendetwas angerichtet. Gegen diese Theorie sprach allerdings, dass er unter den Appetitattacken litt, solange er sich erinnern konnte. Dies wiederum ließ Raum für die zweite, von Pekka Vatanen favorisierte Deutung, er sei »einfach ein bisschen bescheuert«.
Nun, da Kieffer das Carrousel du Louvre verlassen hatte und ziellos durch die Innenstadt von Paris schlenderte, entstand vor seinem geistigen Auge, oder vielmehr vor seinem geistigen Magen, das Bild einer Wurst. Nicht irgendeiner, denn so simpel war er wie gesagt nicht gestrickt, sondern das einer Merguez, einer scharfen Lammwurst. Jemand, vermutlich ein fachkundiger Maghrebiner, hatte diese prächtige Wurst auf einem Rost über Holzkohle gegrillt, bis sie außen schön knusprig war. Dann hatte der Mann sie halbiert und in ein aufgeschnittenes Baguettebrötchen gelegt, dessen Innenseiten dick mit Harissa bestrichen waren, einer scharfen marokkanischen Chilipaste. Garniert war das ganze mit einigen Tomaten- und Gurkenwürfeln.
Da es ihm aussichtslos erschien, dieser sehr bodenständigen kulinarischen Erscheinung im 1. Arrondissement nachzujagen, überquerte Kieffer die Seine und lief in Richtung des immensen Tour Montparnasse, der sich vor ihm am Himmel abzeichnete. Sein Instinkt sagte ihm, dass er in der Nähe des dortigen Bahnhofs zahlreiche Imbissbuden fände, die das offerierten, was er begehrte. Außerdem befand sich Hashimotos Restaurant ebenfalls im Süden, sodass er nun zumindest grob in die richtige Richtung lief. Als er nach gut 20 Minuten das Bahnhofsviertel von Montparnasse erreichte, roch er sein Ziel, bevor er es sah. Es war ein Straßenstand, ein Wägelchen aus Blech, an dem ein freundlich lächelnder älterer HerrMerguez und Shishkebabs briet. Seinen Grill befeuerte er offenbar mit Holzkohlen, denn das Gefährt produzierte eine ebenso würzige wie undurchsichtige Rauchlohe, die Kieffer und den anderen Passanten entgegenwehte. Er bestellte ein Merguez-Sandwich und vertilgte es umgehend im Stehen. Nachdem sein Heißhunger gestillt war, kaufte er ein zweites. Die erste Wurst war für seinen herrschsüchtigen Magen bestimmt gewesen, die zweite gehörte ihm ganz allein. Er setzte sich auf eine Parkbank und aß in aller Ruhe. Mit einer Orangina spülte er die feurige Schärfe der Harissa weg, zündete sich eine Ducal an und lief gemessenen Schrittes weiter. Er überprüfte sein Handy und sah, dass er zwar keinen Rückruf von Hashimoto erhalten hatte, aber eine Nachricht:
»Komm vorbei – um 17 Uhr. Sei pünktlich!«
Es war jetzt 16.40, bis zu dem Restaurant würde er knapp zehn Minuten brauchen. Er lief eine der Hauptstraßen des 14. Bezirks entlang, bis er die Rue des Thermopyles erreichte. Kieffer hatte einmal gehört, dass es sich um eine äußerst sehenswerte Straße mit alten Häusern und Kletterpflanzen an
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