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Rotes Meer

Rotes Meer

Titel: Rotes Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
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ihr erzählen?«
    Nasrin sah Winter mit einer Art Trotz in den Augen an.
    »Nein, nein, das geht mich nichts an.«
    »Warum fragen Sie dann?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Meine Mutter weiß nichts davon.« Nasrin nahm noch einen tiefen Zug, ließ die halb gerauchte Zigarette fallen und trat sie mit dem Absatz auf dem Beton aus. Ihre dünnen Lederschuhe hatten niedrige Absätze. »Sie weiß es nicht.«
    »Was?«
    »Gar nichts«, sagte Nasrin. »Sie hat von nichts eine Ahnung.«
    »Wer hat schon eine Ahnung?«
    Sie antwortete nicht.
    Winter verstand, wovon Nasrin sprach. In vielen Einwandererfamilien hatten die Eltern null Ahnung. Sie hatten keinen Kontakt zur Umwelt. Sie hatten keine Sprache. Sie hatten gar nichts außerhalb ihrer Wohnung. Sie hatten Angst. Da draußen in der fremden, erschreckenden Welt bewegten sich die Kinder. Die Kinder gingen ein und aus, passierten die Grenze hundert Mal am Tag. Manchmal kehrten sie nicht zurück.
    »Wer in Ihrer Familie hat eine Ahnung?«, fragte Winter.
    »Hatte«, sagte Nasrin und sah ihn an. »Hiwa hatte die Kontrolle. Wollen wir hier Wurzeln schlagen?«

    Nasrin wollte nicht zu Maria gehen. Sie überquerten den Platz. Die Bettlerin war verschwunden.
    »Also Hiwa hatte die Kontrolle in der Familie?«
    Sie antwortete nicht, starrte vor sich hin und fingerte an ihrer Umhängetasche, ohne sie zu öffnen, um zum Beispiel eine neue Zigarette hervorzuholen. Winter hatte kein Bedürfnis, sich einen Corps anzuzünden. Das wäre nicht in Ordnung. Dieses Mädchen sollte nicht rauchen, ihre Haut war zu schön, zu jung und ihre Lungen und all das. Sie war zu jung, es war zu früh, es war nicht richtig, es gehörte verboten.
    »Was hatte er unter Kontrolle?«
    Sie antwortete immer noch nicht. Sie näherten sich der Schule und begegneten Kindern, die Nasrin etwas zuriefen. Sie antwortete jedoch nicht.
    »Geht Azad in die Schule?« Winter wies mit dem Kopf auf das Schulgebäude, das langsam in Sonnenlicht getaucht wurde.
    »Manchmal«, antwortete sie.
    »Schwänzt er?«
    »Manchmal«, wiederholte sie. »Wollen Sie das anzeigen oder wie man das nennt? Ihn wegen Schwänzens anzeigen? Aber im Augenblick sind Sommerferien.«
    »Das nehmen ja wohl seine Lehrer in die Hand, oder? Ihn melden?«
    »Wem denn?«
    »Ihrer Mutter natürlich.«
    »Sie weiß nichts. Hab ich das nicht gesagt?«
    »Wie lange hat er geschwänzt?«, fragte Winter.
    »Warum fragen Sie danach?«
    Nasrin war stehengeblieben. Sie hatten die Schule und die Pizzeria Gloria passiert. Links lagen die Räume des Mietervereins und etwas, das sich Rosa Laden nannte. Im Schaufenster waren Kleidung und Spielzeug ausgestellt, vielleicht gebraucht. Für Kinder schien das ein anziehender Ort zu sein. Winter sah einige den Laden betreten. Ein kleines Mädchen drehte sich um und schaute sie an. Einige Meter entfernt entdeckte Winter ein Schild mit der Aufschrift »Arzt«.
    »Was sagt Azad?«, fragte Winter.
    »Wozu?«
    Offene Fragen. Manchmal funktionierte es, manchmal nicht. Die Antwort kam fast wie ein Echo. Auf die Art konnte es sehr viel länger dauern, aber es konnte sich lohnen.
    »Dass Hiwa erschossen wurde.«
    »Was soll er dazu sagen?«
    Winter antwortete nicht.
    »Spielt das für einen von uns eine Rolle?«, fragte sie.
    »Warum wurde Hiwa erschossen?«
    Sie standen immer noch am selben Fleck. Plötzlich drehte sie sich um und begann, über den Platz zurückzugehen.
    »Was hat Hiwa gewusst?«, fragte Winter. »Worüber hatte er die Kontrolle?«
    Sie fing an zu weinen.

    Die Kirche wirkte kalt. Die Umgebung wirkte warm, aber die Kirche nicht, auch der Turm nicht. Vielleicht war er dem Himmel zu nah.
    »Was hätte er wissen sollen?«, fragte Nasrin.
    »Etwas, das er nicht hätte wissen dürfen.«
    »Was denn? Was hätte das sein sollen?«
    »Was hat er Ihnen erzählt?«
    »Mir? Von so was hat er mir nichts erzählt.«
    »Nichts? Nichts … das ihn erregt hat? Irgendwas, das ihn nervös gemacht hat?«
    »Nein.«
    »Etwas, das ihn verändert hat? Hat er seine Gewohnheiten irgendwie geändert? Oder … ist er ein anderer geworden?«
    Sie antwortete nicht.
    »Es ist sehr wichtig«, sagte Winter.
    »Was soll denn das sein, dass es ihn getötet hat? Was so wichtig war, dass sie so etwas getan haben?«
    »Sie?«
    »Was?«
    »Sie haben sie gesagt.«
    »Oder jemand. Sie. Oder der. Ich weiß es nicht. Ich meine … wer kann das wissen?« Sie machte eine Pause. »Um was geht es?«
    »Ich weiß es nicht, Nasrin. Vielleicht um Rauschgift.

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