Rotglut - Kriminalroman
Tochter zu umarmen.
»Hallo, Papa«, freute sich Christiane und machte sich von ihrem Vater los. »Möchtest du nicht auch Heiner Guten Tag sagen oder hast du deine guten Manieren zu Hause gelassen?«, spöttelte sie gutmütig. Dann schloss sie ihre Mutter und ihre Schwester in die Arme.
»Natürlich, natürlich, aber du musstest zuerst begrüßt werden. Guten Tag, Herr Hölzle«, wandte er sich steif an Heiner, der zwischenzeitlich Ruth und Carola die Hände geschüttelt hatte. Manfred Johannsmann siezte Heiner immer noch, seine Frau Ruth dagegen war schon längst zum Du übergegangen.
»Tag«, gab Hölzle lapidar zurück. »Wollen wir dann gleich wieder los?« Er sah auf seine Uhr. 15 Uhr. In einer Stunde war Anpfiff, und Markus Rotenboom, bei dem sich alle zum Fußballschauen trafen, wohnte in Lilienthal, am Rande Bremens. Da fuhr man nicht mal eben in fünf Minuten hin. Und Heiner wollte sich in aller Ruhe vor dem Spiel in Stimmung bringen. Zumindest in eine bessere, als er jetzt hatte.
»Aber, aber, nur keine Hetze. Schließlich hatten wir genug Stress auf der A1 von Hamburg bis hierher. Diese ewige Baustelle. Ich hätte jetzt gern eine schöne Tasse Kaffee, Christiane.« Manfred Johannsmann ignorierte Hölzles Aufforderung und hakte seine Tochter unter, um sie in die Küche zu schleppen. Christiane warf Heiner einen hilflosen Blick über die Schulter zu und wand sich aus dem Arm ihres Vaters heraus.
»Ach, Papa, setzt euch doch schon mal auf den Balkon, ich mach euch gleich Kaffee. Wir haben nicht so viel Platz in der Küche, das weißt du doch.«
Familie Johannsmann dackelte auf den Balkon, und Heiner nutzte die Gelegenheit, um mit Christiane allein zu sein.
»Hör mal, ich nehm ihn ja jetzt schon mit, aber ich sehe nicht ein, dass ich erst nach dem Anpfiff bei Markus einlaufe, nur weil dein Vater meint, er braucht jetzt noch einen Kaffee. Das ist doch wieder reine Schikane.« Hölzles Stirn lag in zornigen Falten.
Christiane stellte die erste Tasse unter den Auslauf des Kaffeeautomaten und drückte einen Knopf. Die Kaffeebohnen ratterten durch die Mühle, ein Geräusch, das Hölzle sonst liebte, heute nervte es ihn. Wie eigentlich alles heute.
»Jetzt komm schon, das schafft ihr doch locker bis zum Anpfiff. In 20 Minuten bist du bei Markus, das reicht doch noch.« Sie stellte die nächste Tasse unter.
»Wie, in 20 Minuten? Ich werde wohl kaum das Blaulicht einschalten. Du weißt ganz genau, dass man länger braucht bei den 1.000 Ampeln, die natürlich alle rot sind, wenn man’s eilig hat. Ich fahre in fünf Minuten los, und entweder er kommt mit oder er bleibt hier bei euch. Wie konnte ich dieser Schnapsidee überhaupt nur zustimmen?«
Die nächste Tasse lief durch. »Gib dir doch mal ein bisschen Mühe. Ich weiß, er ist nicht einfach, aber du weißt doch, wie Väter sind. Glauben, sie wissen immer, was besser ist für ihre Kinder, besonders für ihre Töchter.«
»Mein Vater war nie so«, schmollte Hölzle und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Fünf Minuten, die Uhr tickt.«
Es wurden 15 Minuten. Endlich saßen sie im Auto und fuhren in Richtung Lilienthal. Manfred Johannsmann hatte offensichtlich ein Schweigegelübde abgelegt, denn er sagte keinen Ton, was Hölzle allerdings nur recht war.
27. Juni, 15:50 Uhr, Bremen
Yves Renard erwachte aus seinem Mittagsschlaf. Er fröstelte trotz der warmen Temperaturen in seinem Zimmer. Stechende Schmerzen durchfuhren seinen ganzen Körper, in seinem Kopf pochte es heftig. Er griff zum Trinkglas neben seinem Bett, goss sich ein Glas stilles Wasser ein und drückte aus der Blisterpackung drei grüne Pillen heraus. Heute Morgen hatte er schon zwei genommen. Eigentlich sollte er maximal zwei Tabletten pro Tag einnehmen, aber ohne die erhöhte Dosis würde er den Rest des Tages nicht durchstehen.
Bereits das Treffen vor einigen Tagen mit seiner Tochter hatte ihn an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Das Wiedersehen mit seiner Frau einen Tag darauf war auch nicht besser verlaufen. Das Gespräch, der erneute Versuch einer Erklärung – alles war kläglich gescheitert. Er hatte gar nicht gewusst, dass Hannelore so rasend vor Zorn werden konnte. Aber gut, er hatte sie ja auch Jahrzehnte lang nicht gesehen.
Renard quälte sich aus dem Bett und schlurfte zur Toilette. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm einen Mann, der gut und gern 90 Jahre alt sein könnte. Er wusch sich das verschwitzte Gesicht und putzte die Zähne. Das Treffen, das er
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