Rotglut
Plötzlich kommt ihm eine Idee. Er wird sich selbst verletzen und Stock erzählen, dass die Entführer ihn zusammengeschlagen und mit dem Geld abgehauen sind. Stegmann sucht sich einen dicken, abgebrochenen Ast und beginnt, sich selbst auf Arme, Knie, Rumpf und Kopf zu schlagen. Blut rinnt aus kleineren Wunden, die Hämatome werden erst in ein, zwei Tagen zu sehen sein. Doch das Geld ist die Schmerzen wert.
20. Juli 2010, Bremen
Peter Dahnken stutzte. Ihm war aufgefallen, dass der Obduktions- und der Ballistikbericht in den Akten zum Tode des jungen Polizisten im Karstadt fehlten. Die Ballistik hätte eindeutig nachgewiesen, ob die Kugel, die den Polizisten getötet hatte, durch ein Objekt abgelenkt worden war oder nicht. Hätte die Kugel zuerst etwas gestreift, wäre sie deformiert gewesen, bevor sie in den Rücken eindrang, was wiederum eine komplett andere Schusswunde verursacht hätte als bei einer direkten Schussverletzung.
Das wurde ja immer besser. Ein Zeuge, den sein Gedächtnis am Verhandlungstag auf einmal doch etwas im Stich gelassen hatte, fehlende Berichte – was würde er als Nächstes entdecken?
Kriminaloberkommissar Dahnken beschloss, den Zeugen Gerd Weidner aufzusuchen – sofern er überhaupt noch lebte – und mit ihm zu sprechen. Das Ganze stank zum Himmel, und es war offensichtlich, dass Weidner gekauft oder unter Druck gesetzt worden war. Peter Dahnken blätterte die Gerichtsakten durch und fand Namen und Anschrift des Zeugen. Kolberger Straße in der Neustadt, einem Stadtteil Bremens auf der anderen Seite der Weser.
Dahnken überprüfte Namen und Anschrift im Melderegister. ›Wer weiß, ob der da überhaupt noch wohnt?‹, dachte er. Er fand jemanden namens Weidner unter der Adresse, allerdings eine Frau. Sigrid Weidner. Weidners Frau? Seine Tochter? Dahnken wählte die angegebene Telefonnummer.
Es meldete sich eine älter klingende Frauenstimme. »Ja, bitte?«
»Hier spricht Peter Dahnken von der Kripo Bremen. Spreche ich mit Frau Sigrid Weidner?«, fragte Peter und spielte mit seinem Kugelschreiber.
»Ja, das bin ich«, war die knappe Antwort. Die Frau wirkte vorsichtig und reserviert.
»Wohnt bei Ihnen zufällig ein Gerd Weidner? Zumindest war dies seine frühere Adresse«, begann er. Die Frau am anderen Ende holte tief Luft und fiel ihm ins Wort. »Was wollen Sie von meinem Mann?«
»Es tut mir leid, das möchte ich gern mit ihm selbst besprechen. Wir sind auf ihn im Rahmen von Ermittlungen eines aktuellen Falles gestoßen, und scheinbar gibt es Verbindungen zu der Schießerei bei Karstadt vor mehr als 35 Jahren. Ihr Mann war ein Augenzeuge,« brachte er sein Anliegen vor.
»Mein Mann wird Ihnen da nicht helfen können, tut mir leid«, Verbitterung und auch Hass waren in ihrer Stimme deutlich zu hören.
»Ich würde trotzdem ganz gern mit Ihrem Mann persönlich sprechen«, bat Peter und übte sich in Geduld. »Wissen Sie was, ich gebe Ihnen meine Durchwahl vom Polizeipräsidium und er soll sich bitte mit mir in Verbindung setzen. Es wäre wirklich wichtig für uns.« Plötzlich hörte er ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung.
Mit tränenerstickter Stimme ließ Sigrid Weidner ihn wissen, dass Gerd sich im Dezember 1973 vor einen Zug geworfen hatte. In seinem Abschiedsbrief stand, dass er mit einer Lüge nicht weiterleben könne.
*
Hölzle durchforstete die alten Akten über das Bombenattentat am Bremer Hauptbahnhof in der Hoffnung, ein weiteres Puzzleteil zu finden. Schon seit Stunden saß er mit Harry, der ebenfalls in den Aktenordnern wühlte, in den Katakomben des Staatsarchivs, und die leeren Verpackungen diverser vertilgter Schokoriegel türmten sich auf dem kleinen Holztisch.
»He, sieh mal hier«, sagte Harry in die Stille hinein, »es geht um die Lösegeldübergabe für Rosenberg.« Er klopfte mit dem Zeigefinger auf die Papiere, die vor ihm lagen.
»Lass sehen«, Hölzle rutschte mit seinem Stuhl näher an seinen Kollegen heran. Gemeinsam lasen sie stumm den Text.
›Übergabe von DM 250.000 soll morgen erfolgen. R.S. übernimmt. R.R. wird am selben Tag noch frei gelassen werden.‹
Am Ende der Seite war ein weiterer Eintrag .
›Keine Spur von R.R. Geldübergabe durch R.S. gescheitert. Wurde vom Täter zusammengeschlagen. Suche nach R.R. läuft auf Hochtouren.‹
»Passt nicht ins Bild«, kommentierte Hölzle. »Warum sollten die Entführer den Überbringer des Geldes zusammenschlagen? Sie hätten doch die Kohle bekommen. Es gibt nur zwei
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