Roth, Philip
bleiben einige Lähmungen zurück, oft aber auch gar keine. Die meisten Fälle sind relativ leicht.« Er sprach mit Autorität, und die Quelle seines Wissens war natürlich Dr. Steinberg.
»Man kann daran sterben«, sagte Bobby und blieb beim Thema, wie er es bisher selten getan hatte. Meist schien er lieber zuzuhören, wenn andere redeten, aber nach dem, was mit seinen Freunden geschehen war, konnte er nicht mehr an sich halten. »Alan und Herbie sind gestorben.«
»Ja, man kann daran sterben«, gab Mr. Cantor zu. »Aber die Gefahr ist klein.«
»Für Alan und Herbie war sie nicht klein«, erwiderte Bobby.
»Ich habe gemeint, klein im Vergleich zur Einwohnerzahl einer Stadt.«
»Das hilft Alan und Herbie auch nicht«, sagte Bobby.
»Stimmt, Robert. Das hilft ihnen nicht. Es ist schrecklich, was mit ihnen geschehen ist. Und auch das, was mit den anderen geschehen ist.«
Unvermittelt meldete sich ein zweiter Junge zu Wort, Kenny Blumenfeld, doch das, was er sagte, war unverständlich, weil er mit den Tränen kämpfte. Er war groß und stark, ein intelligenter, verständiger Junge, der mit vierzehn bereits in die zweite Klasse der Highschool ging und, im Gegensatz zu den meisten anderen, reif genug war, um in Fragen des Gewinnens oder Verlierens Gefühle außer acht zu lassen. Er war, zusammen mit Alan, einer der Anführer auf dem Sportplatz gewesen, ein Junge, der immer zum Mannschaftskapitän gewählt wurde. Er war der mit den längsten Armen und Beinen, er schlug die weitesten Bälle, er war gefühlsmäßig wie körperlich robust, und doch war er es, der älteste, größte und reifste Junge, der mit den Fäusten auf seine Oberschenkel schlug, während ihm Tränen über das Gesicht rannen.
Mr. Cantor stand auf und setzte sich neben ihn.
Mit tränenerstickter Stimme sagte Kenny: »Alle meine Freunde kriegen Polio. Alle meine Freunde werden Krüppel sein. Oder tot.«
Mr. Cantor legte Kenny die Hand auf die Schulter und sagte nichts. Er sah auf das Feld mit den beiden Mannschaften, die sich so auf das Spiel konzentrierten, dass sie gar nicht merkten, was jenseits der Seitenlinien geschah. Er dachte an Dr. Steinberg und dessen Ermahnung, die Gefahr nicht zu übertreiben, und doch dachte er: »Kenny hat recht. Sie werden alle Krüppel sein. Jeder einzelne von ihnen. Die auf dem Spielfeld und die auf der Tribüne. Die Mädchen, die seilspringen. Sie sind bloß Kinder, und die Kinderlähmung wird hier hindurchfegen und sie alle vernichten. Jeden Tag, wenn ich komme, werden es weniger sein. Es ist nicht aufzuhalten, es sei denn, sie schließen die Sportplätze. Und nicht mal das wird helfen - letzten Endes wird die Krankheit jedes einzelne Kind erwischen. Dieses Viertel ist verdammt. Kein einziges Kind wird diese Epidemie unversehrt überleben - sofern es überhaupt überlebt.«
Und dann dachte er aus irgendeinem Grund an den Pfirsich, den er auf der Veranda der Steinbergs gegessen hatte, er konnte ihn geradezu in der Hand spüren, und zum ersten Mal hatte er Angst um sich selbst. Das Erstaunliche war, dass er die Angst so lange auf Abstand hatte halten können.
Er sah Kenny Blumenfeld weinen und wollte plötzlich vor dem Leben inmitten all dieser Kinder davonlaufen, vor dem unablässigen Wissen um die drohende Gefahr. Er wollte fliehen, wie Marcia es ihm gesagt hatte.
Statt dessen blieb er still neben Kenny sitzen, bis dieser aufgehört hatte zu weinen. Dann sagte er zu ihm: »Ich bin gleich wieder da - ich will ein bisschen spielen.« Er ging aufs Spielfeld und sagte zu Barry Mittelman, der am dritten Base stand: »Komm, setz dich mal für eine Weile in den Schatten und trink etwas«, übernahm für den Rest des Innings seinen Platz, zog Barrys Handschuh an, und schlug immer wieder mit der Faust in die Höhlung.
Bis zum Abend spielte Mr. Cantor auf jeder Position und gab den Jungen beider Mannschaften Gelegenheit, sich im Schatten auszuruhen, damit sie sich nicht überanstrengten. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können, um die weitere Ausbreitung der Kinderlähmung zu verhindern. Im Outfield musste er den Handschuh an den Schirm der Baseballmütze beben, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, die um vier Uhr nachmittags nicht weniger unbarmherzig herabbrannte als um zwölf. Zu seiner Überraschung hörte er hinter sich auf der kleinen Straße die drei Mädchen, die noch immer fieberhaft seilsprangen und im Rhythmus eines schlagenden Herzens ihre Verse aufsagten.
S, ich heiße Sally,
Und mein
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