Roth, Philip
Mann, der heißt Sinclair ...
Gegen fünf, als die Jungen schweißgebadet das letzte Spiel beendeten - viele Feldspieler und auch die Batter hatten ihre nassen Polohemden am Rand des Spielfelds auf den heißen Asphalt geworfen -, hörte Mr. Cantor plötzlich vom Ende des Centerfields Geschrei. Es war Kenny Blumenfeld, der ausgerechnet Horace anschrie. Horace hatte irgendwann im Lauf des Tages am Ende der Bank gesessen, doch dann hatte Mr. Cantor ihn aus den Augen verloren und nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich war er wie meistens ziellos herumgewandert und gerade erst zum Sportplatz zurückgekehrt, wo er, wie es seine Gewohnheit war, mit schlurfenden Schritten zu einem Spieler ging - in diesem Fall war das Kenny, einer der größten Jungen auf dem Platz, Kenny, der am Morgen so untypisch losgeweint hatte, weil all seine Freunde Polio bekommen würden, und der jetzt ebenso untypisch Horace anschrie und drohend den Handschuh schwenkte. Er war einer derjenigen, die ihr Hemd ausgezogen hatten, und man konnte deutlich sehen, dass er stärker war als alle anderen. Horace dagegen, der seine übliche Sommerkleidung trug, bestehend aus einem viel zu großen kurzärmligen Hemd, einer ballonartigen Baumwollhose mit elastischem Bund und altmodischen, braun-weißen Schuhen mit Lochmuster, schien bis zur Abmagerung unterernährt. Seine Brust war eingesunken, seine Beine waren dünn, und seine dürren Marionettenarme, die von seinen Schultern baumelten, sahen aus, als könnte man sie wie einen Stock über dem Knie zerbrechen. Er machte den Eindruck, als würde ihn ein gehöriger Schreck umbringen, geschweige denn ein Faustschlag von einem Jungen mit Kennys Statur.
Sofort sprang Mr. Cantor von der Bank, wo er gesessen hatte, auf und rannte, so schnell er konnte, zum Ende des Centerfields, und die anderen Jungen auf dem Spielfeld und der Tribüne rannten ebenfalls. Die drei Mädchen auf der Straße hörten auf seilzuspringen, zum ersten Mal in diesem Sommer, wie es schien.
»Er soll weggehen!«, schrie Kenny, der Junge, der für die anderen ein Vorbild an Reife war und den Mr. Cantor bisher nicht ein einziges Mal hatte ermahnen müssen, sich zusammenzureißen. Eben dieser Kenny schrie nun: »Er soll weggehen, sonst bring ich ihn um!«
»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Mr. Cantor. Horace stand nur mit hängendem Kopf da, Tränen liefen ihm über die Wangen. Er klagte: Aus seiner Kehle drang wie eine Art Radiosignal ein dünnes Wimmern.
»Riecht ihr das?«, schrie Kenny. »Er ist ganz voll Scheiße! Er überträgt die Kinderlähmung! Er ist das! Er soll weggehen, verdammt! Er ist derjenige, der die Kinderlähmung überträgt!«
»Beruhige dich, Kenny«, sagte Mr. Cantor und versuchte, den Jungen festzuhalten, doch der machte sich mit heftigen Bewegungen frei. Sie waren jetzt umringt von den Spielern beider Mannschaften, und als einige der Jungen den tobenden Kenny am Arm nahmen und ihn wegziehen wollten, schlug er mit Fäusten nach ihnen, so dass sie rasch zurückwichen.
»Ich werde mich nicht beruhigen!«, schrie Kenny. »Er ist es! Er ist es! Seine Unterwäsche ist voll Scheiße! An seinen Händen ist Scheiße! Er wäscht sich nicht, er ist nicht sauber, und dann will er, dass wir ihm die Hand schütteln, und so trägt er die Kinderlähmung herum! Wegen ihm werden Leute zu Krüppeln! Wegen ihm sterben sie! Hau ab! Weg! Verschwinde!« Er schwenkte den Handschuh, als wollte er den Angriff eines tollwütigen Hundes abwehren.
Mr. Cantor wich den fuchtelnden Armen aus und stellte sich zwischen den hysterischen Jungen und das verängstigte Opfer seiner Wut.
»Du musst jetzt nach Hause gehen, Horace«, sagte Mr. Cantor ruhig. »Geh nach Hause zu deinen Eltern. Es ist Zeit fürs Mittagessen.«
Horace stank, er stank schrecklich. Und obwohl Mr. Cantor seine Worte wiederholte, weinte Horace einfach und sagte nichts.
»Hier, Horace«, sagte Mr. Cantor und streckte die Hand aus. Horace ergriff sie, ohne aufzusehen. »Wie geht's, Horace?«, flüsterte Mr. Cantor und schüttelte ihm die Hand, so herzlich, wie er am Abend zuvor Dr. Steinbergs Hand geschüttelt hatte, nachdem dieser ihm erlaubt hatte, sich mit Marcia zu verloben.
»Wie geht's, Horace?«, flüsterte Mr. Cantor und schüttelte Horaces schlaffe Hand. »Wie geht's, mein Junge?« Es dauerte etwas länger als sonst, wenn Horace zu einem der Spieler ging und neben ihm stehenblieb, aber auch diesmal wirkte dieses Ritual, und Horace wandte sich dem Ausgang zu - ob er
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