Roth, Philip
nach Hause oder anderswohin gehen wollte, wusste niemand, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Die anderen Jungen, die Kennys Wutausbruch gehört hatten, wichen weit vor Horace zurück und sahen ihn allein durch die drückende Hitze schlurfen, während die Mädchen schrill schrien: »Er ist hinter uns her, der Verrückte ist hinter uns her!« und mit ihrem Seil zur Chancellor Avenue rannten, wo der Nachmittagsverkehr rauschte, auf der Flucht vor diesem Wesen, das ihnen vor Augen führte, wie tief die Not eines Menschen sein konnte.
Damit Kenny sich beruhigte, bat Mr. Cantor ihn am Ende des Tages, zu bleiben und ihm zu helfen, die Bälle und Schläger und die anderen Sachen im Lagerraum der Schule zu verstauen, und dann begleitete er Kenny den Hügel hinab zu seinem Haus in der Hansbury Avenue. Dabei sprach er die ganze Zeit leise mit ihm.
»Es türmt sich über allen auf, Ken. Du bist nicht der einzige im Viertel, der diesen Druck spürt. Diese Hitze und die Kinderlähmung - kein Wunder, dass alle mit den Nerven am Ende sind.«
»Aber er trägt sie herum, Mr. Cantor. Ich bin mir sicher. Ich hätte nicht so wütend werden sollen, immerhin ist er ja bloß ein Trottel, aber er ist schmutzig und überträgt Kinderlähmung. Er läuft überall herum und sabbert alles voll und schüttelt jedem die Hand, und so verbreitet er die Keime überall.«
»Wir wissen nicht, wie sie übertragen wird«, sagte Mr. Cantor.
»Wissen wir doch. Durch Schmutz. Durch Schmutz, Dreck und Scheiße«, sagte Kenny heftig, »und Horace ist schmutzig, dreckig und voller Scheiße. Er überträgt Kinderlähmung! Ich weiß es!«
Vor Kennys Haus legte Mr. Cantor dem Jungen die Hände auf die Schultern, doch der schüttelte sie sogleich ab. »Fassen Sie mich nicht an!«, schrie er. »Sie haben ihn angefasst!«
»Geh rein«, sagte Mr. Cantor immer noch ruhig, trat aber einen Schritt zurück. »Nimm eine kalte Dusche. Trink etwas Kühles. Beruhige dich, Ken. Wir sehen uns morgen auf dem Sportplatz.«
»Sie wollen nur nicht zugeben, dass er Kinderlähmung überträgt, weil er so jämmerlich und hilflos ist. Dabei ist er nicht bloß hilflos - er ist auch gefährlich. Verstehen Sie das nicht, Mr. Cantor? Er weiß nicht, wie man sich den Hintern abwischt, und so trägt er sie überall herum!«
Beim Abendessen betrachtete er seine Großmutter, während sie ihm das Essen auftat, und fragte sich, ob seine Mutter wohl so ausgesehen hätte, wenn sie das Glück gehabt hätte, fünfzig Jahre älter zu werden: zart, gebeugt, mit spröden Knochen und Haar, das seit Jahrzehnten nicht mehr dunkel, sondern zu einem dünnen weißen Flaum geworden war, mit schlaffer Haut in den Armbeugen und unter dem Kinn, mit Gelenken, die morgens schmerzten, und Knöcheln, die abends anschwollen und pochten, mit durchscheinender, papierner Haut auf den altersfleckigen Händen und Katarakten, die das, was sie sah, verschleierten und verfärbten. Das Gesicht über dem verfallenen Hals war ein dichtes Gespinst aus feinen Falten und Runzeln, so winzig, dass sie mit einem weit weniger groben Werkzeug als der Keule des Alterns erzeugt zu sein schienen, den Klöppeln einer Spitzenmacherin etwa oder einer Radiernadel, geführt von einem Meister, dessen Kunst sie so alt erscheinen ließ wie nur irgendeine Großmutter.
Als seine Mutter ein Mädchen gewesen war, hatte es eine große Ähnlichkeit zwischen ihr und seiner Großmutter gegeben. Das hatte er auf Fotos gesehen, wo ihm natürlich als Erstes aufgefallen war, wie ähnlich er seiner Mutter war - das galt besonders für das gerahmte Porträt von ihr, das auf der Kommode im Schlafzimmer seiner Großeltern stand. Das Bild, das sie mit achtzehn bei ihrem Highschool-Abschluss zeigte, war auch im Jahrbuch der Highschool für das Jahr 1919 abgedruckt, das Bucky als kleiner Junge oft durchgeblättert hatte, nachdem ihm die Erkenntnis gekommen war, dass die anderen Jungen in seiner Klasse nicht Enkel waren, die bei ihren Großeltern lebten, sondern Söhne, die eine Mutter und einen Vater hatten - das, was er als »richtige Familien« bezeichnete. Am besten begriff er, wie unsicher sein Stand in dieser Welt war, wenn Erwachsene ihn mit diesem Blick betrachteten, der ihm zuwider war, dem mitleidigen Blick, den er gut kannte, weil ihn manchmal auch seine Lehrer so ansahen. Dieser Blick machte nur zu deutlich, dass die alternden Eltern seiner Mutter das einzige waren, was zwischen ihm und dem trostlosen vierstöckigen Backsteinhaus an der
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