Roth, Philip
nahegelegenen Clinton Avenue stand, diesem Haus mit seinem schwarzen Eisenzaun und den vergitterten Milchglasfenstern, mit der schweren Tür, die ein weißer Davidstern zierte, und dem breiten Sims darüber, auf dem die beiden furchtbarsten Worte standen, die er je gelesen hatte: israelitisches Waisenhaus.
Obwohl seine Großmutter sagte, auf dem Foto im Schlafzimmer könne man sehen, was für ein guter Mensch seine Mutter gewesen sei, war es nicht sein Lieblingsfoto von ihr, und zwar wegen der schwarzen Robe, die sie über dem Kleid trug und deren Anblick ihn immer traurig machte, als wäre diese Robe ein Vorzeichen, ein Vorbote des Leichenhemdes. Doch wenn er allein zu Hause war, weil seine Großeltern im Laden um die Ecke arbeiteten, ging er manchmal ins Zimmer seiner Großeltern, strich mit dem Finger über das Foto und zeichnete die Konturen des Gesichtes seiner Mutter nach, als wäre das schützende Glas entfernt und als hätte er ihr Gesicht in Fleisch und Blut vor sich. Er tat es, obwohl das, was er dabei deutlich spürte, nicht die Gegenwart war, die er suchte, sondern vielmehr die Abwesenheit einer Frau, die er nur auf Fotos gesehen und deren Stimme er nie gehört hatte, deren mütterliche Liebe ihm nie zuteil geworden war, die Mutter, der es nie vergönnt gewesen war, für ihn zu sorgen, ihn zu füttern oder ins Bett zu bringen, ihm bei seinen Hausaufgaben zu helfen, ihn aufwachsen zu sehen und zu erleben, dass er als Erster in der Familie ein College besuchte. Aber konnte er wirklich sagen, dass er als Kind nicht genug geliebt worden war? Warum sollte die echte Zärtlichkeit einer liebevollen Großmutter weniger wert sein als die Zärtlichkeit einer Mutter? Sie sollte nicht weniger wert sein, und doch spürte er insgeheim, dass es so war - und schämte sich für diesen Gedanken.
Nach all den Jahren kam Mr. Cantor zum ersten Mal auf den Gedanken, dass Gott nicht nur jetzt die Polio in Weequahic grassieren ließ, sondern auch vor dreiundzwanzig Jahren zugelassen hatte, dass seine Mutter, die erst zwei Jahre zuvor die Highschool abgeschlossen hatte und jünger gewesen war als er jetzt, bei der Entbindung gestorben war. So hatte er ihren Tod noch nie zuvor betrachtet. Durch die Fürsorge seiner Großeltern war ihr Tod ihm bisher immer wie etwas vorgekommen, das hatte geschehen müssen. So wie es hatte sein müssen, dass sein Vater ein Spieler und Dieb war - es konnte gar nicht anders sein. Jetzt dagegen begann er zu sehen, dass die Dinge wegen Gott nicht anders sein konnten. Wenn Gott nicht wäre, wenn Gott nicht so wäre, wie er war, könnten sie anders sein.
Solche Dinge konnte er nicht mit seiner Großmutter besprechen, die ein ebenso wenig reflektierender Mensch war wie sein Großvater, und er hatte auch nicht vor, sie mit Dr. Steinberg zu besprechen, der zwar ein überaus reflektierender Mensch, aber auch praktizierender Jude war und an den Gedanken, die diese Polioepidemie in Mr. Cantor auslöste, womöglich Anstoß genommen hätte. Für Mr. Cantor war es unvorstellbar, Dr. Steinberg oder ein Mitglied seiner Familie in irgendeiner Weise vor den Kopf zu stoßen, und das galt vor allem für Marcia, für die die jüdischen Feiertage stets ein Quell des Gedenkens und eine Zeit des Gebets waren. An allen drei Tagen nahm sie mit ihrer Familie am Gottesdienst in der Synagoge teil. Er wollte alles respektieren, was die Steinbergs respektierten, auch die Religion, die ihn mit ihnen verband, obwohl er ihr, wie sein Großvater - für den nicht die Religion eine Pflicht, sondern die Pflicht eine Religion gewesen war - eher indifferent gegenüberstand, und er war auch immer imstande gewesen, das zu tun, es hatte ihn nie eine Anstrengung gekostet, bis zu dem Augenblick, da in ihm der Zorn darüber ausbrach, dass die Kinderlähmung ihm und dem Sportplatz all diese wunderbaren Jungen und auch die unverbesserlichen Kopferman-Jungen raubte. Zorn nicht auf die Italiener oder die Fliegen oder die Post oder das Geld oder das stinkende Secaucus oder die gnadenlose Hitze oder Horace, nicht auf irgendeine noch so unwahrscheinliche Ursache, die die Menschen in ihrer Angst und Verwirrung ausgemacht hatten, Zorn nicht auf das Poliovirus, sondern auf Gott, den Schöpfer dieses Virus.
»Du überanstrengst dich doch nicht, Eugene, oder?« Das Abendessen war vorbei, und er wusch das Geschirr ab, während seine Großmutter am Küchentisch saß und ein Glas Eiswasser aus dem Kühlschrank trank. »Du gehst zum Sportplatz, du
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