Roth, Philip
gehst zu den Familien deiner Jungs, am Sonntag gehst du zur Beerdigung, abends kommst du her, um mir zu helfen - vielleicht solltest du aufhören, in dieser Hitze umherzurennen, und mal mit dem Zug ans Meer fahren und dir für das Wochenende ein Zimmer nehmen. Mal ausspannen. Mal weg von dieser Hitze. Mal weg vom Sportplatz. Einfach nur ein bisschen schwimmen. Das würde dir bestimmt sehr gut tun.«
»Das ist ein guter Gedanke, Grandma. Keine schlechte Idee.«
»Die Einnemans können nach mir sehen, und am Sonntag abend kommst du dann erholt zurück. Diese Polio-Geschichte zehrt an dir, und davon hat keiner was.«
Beim Abendessen hatte er ihr von den drei neuen Fällen auf dem Sportplatz erzählt und gesagt, er werde später, wenn sie vom Krankenhaus zurück seien, mit den Familien telefonieren.
Wieder ertönten Sirenen, diesmal ganz in der Nähe, und das war ungewöhnlich, da es seines Wissens in diesem dreieckigen, von Springfield, Clinton und Belmont Avenue begrenzten Wohnviertel rechts und links der Avon Avenue bisher nur drei oder vier Polio-Opfer gegeben hatte. Von allen Vierteln der Stadt hatten sie die wenigsten Fälle. Insbesondere am südlichen Ende des Dreiecks, wo er und seine Großmutter lebten und die Mieten viel niedriger waren als in Weequahic, das als weit attraktivere Wohngegend galt, hatte es nur einen einzigen Poliofall gegeben - einen dreißigjährigen Mann, der als Stauer im Hafen arbeitete -, während es in Weequahic mit seinen fünf Grundschulen bereits in den ersten Juliwochen hundertvierzig waren, allesamt Kinder unter vierzehn.
Ja, natürlich: das Meer. Wohin sich bereits einige seiner Jungen mit ihren Müttern für den Rest des Sommers geflüchtet hatten. Er kannte eine Pension in der Bradley Street, ein Stück vom Strand entfernt, wo er für einen Dollar ein Bett im Keller bekommen konnte. Er konnte vom Turm des großen Meerwasserbeckens an der Promenade springen. Er konnte den ganzen Tag springen und am Abend einen Spaziergang nach Asbury Park machen und unter den Arkaden eine Tüte frittierte Muscheln und ein Ginger Ale kaufen, sich auf eine Bank mit Blick aufs Meer setzen und zufrieden schmausen, während er zusah, wie die Wellen an den Strand krachten. Was konnte von der Polioepidemie in Newark weiter entfernt sein, was konnte erholsamer sein als der donnernde, schäumende schwarze nächtliche Atlantik? Es war seit Kriegsbeginn der erste Sommer, in dem eine Gefahr durch deutsche U-Boote oder heimlich nachts an Land gebrachte Saboteure nicht mehr gegeben und die Verdunkelung aufgehoben war, und auch wenn die Küstenwache noch immer an den Stränden patrouillierte und alle paar Kilometer Kleinbunker aufgestellt hatte, brannten an der Küste von New Jersey wieder alle Lichter. Das bedeutete, dass die Deutschen und Japaner vernichtende Niederlagen erlitten und Amerikas Krieg sich nach drei Jahren endlich dem Ende zuneigte. Es bedeutete, dass Big Jake Garonzik und Dave Jacobs, seine beiden besten Freunde vom Panzer College, unversehrt zurückkehren würden, wenn es ihnen gelang, noch ein paar Monate in Europa zu überstehen. Er dachte an das Lied, das Marcia so liebte: I'll be seeing you in all the old familiar places. Das würde etwas werden: Jake und Dave an den alten, vertrauten Orten wiederzusehen!
Er hatte die Schmach, sie nicht begleiten zu dürfen, nie ganz verwunden, auch wenn er wusste, dass es nicht seine Schuld war. Sie waren bei einer Fallschirmeinheit gelandet und sprangen von Flugzeugen in die Schlacht - genau das, was er selbst gern getan hätte, genau das, wofür er gemacht war. Vor etwa sechs Wochen, am 6. Juni, dem Tag der Invasion, hatten sie zu einer riesigen Fallschirmtruppe gehört, die in der Normandie hinter den feindlichen Linien gelandet war. Mr. Cantor stand in Kontakt mit ihren Familien und wusste, dass die beiden, trotz hoher Verluste der beteiligten Einheiten, überlebt hatten, und da er die Entwicklung in den Zeitungen verfolgte, nahm er an, dass sie Ende Juni wahrscheinlich an den heftigen Gefechten um Cherbourg teilgenommen hatten. Das erste, was Mr. Cantor in der Zeitung las, die seine Großmutter jeden Abend von den Einnemans bekam, wenn diese sie gelesen hatten, waren die Berichte über den Kriegsverlauf in Frankreich. Erst dann wandte er sich den Nachrichten über die Polioepidemie in Newark zu, die er zum großen Teil bereits kannte.
Unter der Überschrift »Das Polio-Bulletin« gab es jetzt allabendlich eine Spalte auf der Titelseite der Newark
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