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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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Wahl.«
    »Was? Sie haben keine Wahl?«, fuhr O'Gara ihn an. »Natürlich haben Sie eine Wahl. Was Sie gerade tun, nennt man: eine Wahl treffen. Sie hauen vor der Polio ab. Sie nehmen einen Job an, und dann kommt die Polio, und schon schmeißen Sie den Job hin und kümmern sich einen Dreck um Ihre Pflicht und hauen ab, so schnell Sie nur können. Sie laufen bloß davon, und dabei sind Sie doch so ein Muskelprotz. Sie sind ein Opportunist, Cancer, ganz einfach. Es gibt noch schlimmere Worte für Leute wie Sie, aber ich will's dabei belassen.« Und dann wiederholte er in angewidertem Ton: »Opportunist«, als bezeichnete dieses Wort all die niederen Instinkte, die einen Mann zum Versager machen konnten.
    »Meine Verlobte ist in diesem Sommercamp«, sagte Mr. Cantor lahm.
    »Die war auch schon dort, als Sie den Job an der Chancellor angenommen haben.«
    »Eigentlich nicht«, beeilte er sich zu sagen, als würde das für O'Gara irgendeinen Unterschied machen. »Wir haben uns gerade erst verlobt.«
    »Na gut, Sie haben anscheinend auf alles eine Antwort. Genau wie der Typ an der Peshine. Ihr Juden habt immer auf alles eine Antwort. Nein, Sie sind nicht auf den Kopf gefallen - aber O'Gara ebenfalls nicht, Cancer. Also gut, ich werde einen auftreiben, der Ihren Job übernimmt, sofern es in dieser Stadt jemanden gibt, der eine so anspruchsvolle Arbeit erledigen kann. Und Ihnen wünsche ich viel Spaß, wenn Sie mit Ihrer Freundin im Sommercamp Marshmallows rösten.«
    Es war genau so unangenehm gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte, aber er hatte es getan, und nun war es erledigt. Jetzt musste er nur noch drei Tage auf dem Sportplatz überstehen, ohne sich mit Polio anzustecken.
     

 
2 Indian Hill
     
    Er war nie zuvor in den Poconos gewesen oder in den ländlichen Regionen, wo New Jersey an Pennsylvania grenzt. Die Zugfahrt führte zwischen Hügeln, Wäldern und Farmland hindurch und vermittelte ihm die Vorstellung, nicht bloß in den nächsten Bundesstaat, sondern in eine sehr viel weitere Ferne unterwegs zu sein. Diese Reise durch eine ihm gänzlich unvertraute Landschaft hatte eine epische Dimension und gab ihm ein Gefühl, wie er es schon bei den wenigen anderen Zugfahrten gehabt hatte - so auch kürzlich, als er ans Meer gefahren war: das Gefühl, dass eine ganz unbekannte Zukunft im Begriff war anzubrechen. Der Anblick der tiefen, von seinem Ziel Stroudsburg nur fünfzehn Minuten entfernten Schlucht, die der Delaware, der Pennsylvania und New Jersey trennte, durch die Berge gegraben hatte, verstärkte nur die Intensität dieser Reise und erfüllte ihn mit der - zugegebenermaßen unbegründeten - Gewissheit, dass kein Zerstörer eine so großartige natürliche Grenze würde überschreiten können, um ihn zu packen.
    Es war das erste Mal seit dem Tod seines Großvaters drei Jahre zuvor, dass er seine Großmutter länger als ein Wochenende in der Obhut anderer ließ, das erste Mal, dass er der Stadt für länger als ein, zwei Tage den Rücken kehrte. Und zum ersten Mal seit Wochen beherrschte die Polio nicht all seine Gedanken. Er trauerte noch immer um die beiden Jungen, die gestorben waren, er war noch immer bedrückt, wenn er an die anderen Jungen dachte, die diese furchtbare Krankheit bekommen hatten, aber er hatte nicht das Gefühl, dass er den Erfordernissen nicht gerecht geworden war oder dass ein anderer seine Aufgabe besser erfüllt hätte. Er hatte sich der gewaltigen Herausforderung mit all seiner Kraft gestellt, und dann hatte er beschlossen, sich ihr nicht mehr zu stellen, sondern aus der glutheißen, von der Epidemie geschüttelten Stadt und dem unablässigen Gejaule der Sirenen zu fliehen.
    In Stroudsburg erwartete ihn Carl, der Fahrer des Feriencamps, ein großer, schüchterner Mann mit Kindergesicht und Glatze, in dem alten Kombi. Carl hatte im Ort ein paar Vorräte gekauft und wollte Bucky abholen. Als er Carl die Hand schüttelte, war Buckys erster Gedanke: »Der ist kein Polio-Überträger.« Und es ist kühl hier, wurde ihm bewusst. Sogar in der Sonne ist es kühl!
    Er stellte seine Tasche auf die Ladefläche. Zwischen zwei- und dreistöckigen Backsteinhäusern - in den Erdgeschossen befanden sich Läden, in den Stockwerken darüber Büros - durchquerten sie auf der hübschen Hauptstraße den Ort, bogen dann nach Norden ab und fuhren auf Serpentinen in die Berge. Sie kamen an Farmen vorbei. Auf den Weiden standen Pferde und Rinder, gelegentlich sah er einen Bauern im Overall, es gab Silos und

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