Rotkäppchen und der böse Wolf
Grüße
Deine Tuppence-Mutter
Sie nahm einen anderen Bogen.
Mein geliebter Derek,
was für eine Freude, deinen Brief zu bekommen! Übrigens bin ich auch mit Feldpostkarten zufrieden.
Ich bin für ein Weilchen zu Tante Gracy gefahren. Sie ist recht schwach. Sie spricht immer von dir, als ob du noch sieben Jahre alt wärst. Gestern gab sie mir zehn Shilling die sollte ich dir sch i cken, damit du dir ein Schokolädchen dafür kaufen kannst.
Ich sitze immer noch auf dem Trocknen. Niemand interessiert sich für meine Arbeitslust. Eigentlich finde ich das unglaublich !
Von Vater schrieb ich dir ja. Er hat einen Posten im Verso r gungsministerium bekommen, irgendwo oben in Schottland. Nicht gerade, was er sich gewünscht hat, aber immer besser als gar nichts. Der arme, alte Rotkopf. Ja, was sollen wir machen? Hübsch bescheiden im Hintergrund bleiben und den Krieg euch jungen Dummköpfen überlassen, wie?
Ich sage nicht, ›sei vorsichtig‹ , denn du tust bestimmt genau das Gegenteil, davon bin ich felsenfest überzeugt. Aber, mein lieber Junge, mach bitte keine überflüssigen Dummheiten.
Grüße und Küsse
Tuppence
Sie schob die Briefe in Umschläge, adressierte und frankierte sie und warf sie auf dem Rückweg in den Kasten.
Am Fuß der Klippe angekommen, sah sie in kurzer Entfernung zwei Gestalten im Gespräch stehen. Ihr Atem stockte. Es war die Frau, die sie gestern gesehen hatte, und – Carl von Deinim.
Tuppence schaute um sich. Schade, nirgends eine Möglichkeit, sich zu verbergen. Wie gern wäre sie ungesehen näher gekommen, um zu hören, was die beiden sich zu sagen hatten.
In diesem Augenblick drehte der junge Deutsche sich um und bemerkte sie. Sofort brachen die beiden ihr Gespräch ab.
Die Frau ging rasch den Hügel hinab, überquerte die Straße und lief an Tuppence vorbei.
Carl von Deinim wartete, bis Tuppence ihn erreicht hatte, dann grüßte er ernst und höflich.
»Guten Morgen.«
»Das war aber eine merkwürdige Frau, mit der Sie da eben sprachen, Mr Deinim«, sagte Tuppence unvermittelt.
»Ja. Sie ist Polin.«
»So? Eine gute Bekannte von Ihnen?«
Tuppence gelang es ausgezeichnet, so indiskret und zudringlich zu fragen, wie Tante Gracy es in früheren Tagen immer getan hatte.
»Nein, durchaus nicht«, antwortete Carl steif. »Ich habe sie heute zum ersten Mal gesehen.«
»Ach so?! Ich dachte…« Tuppence machte eine Kunstpause.
»Sie fragte mich nach dem Weg. Ich habe deutsch mit ihr gesprochen, sie versteht kaum Englisch.«
»So?«, sagte Tuppence wieder nachdenklich. »Sie fragte also nach dem Weg?«
»Ja. Sie wollte wissen, ob ich hier in der Nähe eine Mrs Gottlieb kenne. Ich konnte ihr keine Auskunft geben; da meinte sie, vielleicht hätte sie den Straßennamen falsch verstanden.«
»Soso«, murmelte Tuppence.
Mr Rothenstein, Mrs Gottlieb.
Verstohlen blickte sie zu Carl von Deinim auf. Er schritt mit unbeweglichem, verschlossenem Gesicht neben ihr her.
Die Frau erweckte einen immer stärkeren Verdacht in Tuppence. Sie meinte ziemlich bestimmt, dass die beiden ein längeres Gespräch geführt hatten, bevor sie sich trennten.
Carl von Deinim? Und was hatte Sheila damals zu ihm gesagt? »Du musst furchtbar vorsichtig sein…«
Hoffentlich, dachte Tuppence, hoffentlich haben diese beiden jungen Menschen nichts mit der Sache zu tun.
Schlapp, schalt sie sich gleich darauf. Eine ältliche, schlappe Person, das war sie! Die Nazis waren jung; und jung waren vermutlich all ihre Agenten und Spione. Carl und Sheila. Tommy hatte ja auch gemeint, Sheila könnte nichts damit zu tun haben. Aber Tommy war ein Mann, und Sheila war zu schön, von einer seltsamen und verwirrenden Schönheit.
Carl und Sheila, und im Hintergrund diese rätselhafte Mrs Perenna. Mrs Perenna, meist nur die gewöhnliche, wortgewandte Pensionswirtin, aber zuweilen, in ganz flüchtigen Augenblicken, eine tragische Gestalt voll wilder Leidenschaften.
Langsam ging Tuppence die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer.
Ehe sie sich spätabends zu Bett legte, zog sie sehr vorsichtig die Schublade ihres Schreibtisches heraus. Auf der einen Seite stand ein japanisches Lackkästchen mit einem schwachen, billigen Schloss. Tuppence zog Handschuhe an, schloss das Kästchen auf und öffnete es. Ein Stoß Briefe war darin. Obenauf lag das Schreiben, das sie heute Früh von »Raymond« bekommen hatte. Sehr vorsichtig faltete Tuppence es auseinander. Dann presste sie die Lippen zusammen. Also doch! Heute Früh
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