Rotkäppchen und der böse Wolf
wenn ich nur eine Ahnung habe, wo er ist oder wohin er geht. Unser Geheimcode ist ganz einfach. Ein bestimmtes Wort, und dann geben die Anfangsbuchstaben der nächsten Wörter den Ort an. Manchmal kommen da natürlich sehr komische Sätze zu Stande – aber Raymond ist so erfinderisch. Bestimmt kann niemand etwas merken.«
Unwilliges Gemurmel erhob sich. Tuppence hatte den Augenblick gut gewählt; fast alle Gäste waren beim Frühstück versammelt. »Entschuldigen Sie, Mrs Blenkensop«, rief Bletchley, der ganz rot geworden war. »Aber was Sie da machen, ist recht töricht und unverantwortlich. Truppenverschiebungen und Unternehmungen der R.A.F. – darauf sind die Deutschen scharf wie der Teufel auf die arme Seele!«
»Aber von mir wird doch nie jemand ein Sterbenswörtchen erfahren«, rief Tuppence. »Ich bin furchtbar vorsichtig!«
»Trotzdem machen Sie da etwas Unrechtes – und Ihr Sohn wird eines Tages bös hereinfallen.«
»O Gott, hoffentlich nicht! Ich bin doch seine Mutter. Wenn eine Mutter nicht einmal das Recht hat…«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, platzte Mrs O’Rourke strahlend heraus. »Nicht mit Zangen könnte man Ihnen das Geheimnis entreißen – das wissen wir alle.«
»Aber Briefe können gelesen werden«, sagte Bletchley.
»Niemals lasse ich meine Briefe herumliegen«, entgegnete Tuppence mit dem Ausdruck gekränkter Würde. »Ich schließe sie immer gut fort.«
Bletchley schüttelte zweifelnd den Kopf.
Der Morgen war unfreundlich und grau. Ein kalter Wind blies vom Meer her. Tuppence befand sich allein am äußersten Ende des Strandes.
Aus ihrer Handtasche nahm sie zwei Briefe, die sie soeben bei einem kleinen Zeitungsstand in der Stadt abgeholt hatte.
Die Briefe waren ziemlich lange unterwegs gewesen. Die zweite Umadressierung ging an eine Mrs Spender. Tuppence hatte ihre Spuren sorgfältig verwischt; die Kinder glaubten sie bei einer alten Tante in Cornwall. – Sie öffnete den ersten Brief.
Liebste Mutter,
ich könnte dir eine ganze Menge Ulkiges erzählen; schade, dass es nicht geht. Wir arbeiten hier recht tüchtig. Heute vor dem Frühstück schon fünf deutsche Flugzeuge – auf leeren Magen ! Bisschen drunter und drüber geht es ja im Augenblick, aber z u letzt sind wir doch mächtig obenauf, sollst sehen?
Gus und Trundles, die auch hier sind, lassen dich grüßen.
Keine Sorge um mich, mir geht’s prima. Bin so glücklich, dabei zu sein. Viele liebe Grüße an den alten Rotkopf – haben sie ihn endlich irgendwo untergebracht?
Tausend Grüße dein Derek
Tuppence las das Schreiben wieder und wieder. Ihre Augen strahlten. Dann öffnete sie den anderen Brief.
Liebe Mum,
wie geht’s dir bei der alten Mumie von Tante? Kannst du’s scha f fen? Ich bewundere dich – ich kriegte das nie fertig ! Neues wüsste ich nicht. Meine Arbeit ist sehr interessant, aber natürlich mord s geheim, ich darf dir auch nicht einen Pieps davon erzählen. Aber es ist fein, so etwas zu tun, wirklich der Mühe wert. Ärgere dich ja nicht, dass man dir keine Arbeit für den Krieg gibt. Dazu kann man doch nur Junge und Leistungsfähige gebrauchen. Wie geht’s denn dem Rotkopf da oben in Schottland mit seiner A r beit? Muss wohl dauernd Formulare ausfüllen, ja? Aber er ist sicher ganz glücklich, so hat er wenigstens das Gefühl, dass er sich nützlich macht.
Grüße und Küsse
Deborah
Tuppence lächelte. Sie faltete die Briefe sorgfältig zusammen, dann zündete sie sie unter dem Schutz eines Wellenbrechers mit einem Streichholz an und wartete, bis sie ganz zu Asche zerfallen waren.
Sie zog ihre Füllfeder und einen kleinen Schreibblock aus der Tasche und schrieb rasch:
Langherne, Cornwall
Liebste Deb,
ich bin hier in einen so fernen, so verschlafenen Winkel verschl a gen, dass ich mir kaum vorstellen kann, irgendwo sei Krieg. Ich war so froh über deinen Brief. Fein, dass du eine interessante A r beit hast. Tante Gracy ist viel schwächer geworden und auch nicht mehr recht klar. Sie ist wohl froh, mich hier zu haben. Sie redet immer über die alten Zeiten, manchmal hält sie mich auch für meine Mutter. Das Gemüse wächst enorm. Wir haben viel mehr als in den letzten Jahren. In ein paar Rosenbeeten sind Kartoffeln angepflanzt. Ich helfe dem alten Sikes ein bisschen, so kann ich mir einbilden, ich tue etwas für den Krieg. Vater langweilt sich wohl bei seinen Akten, aber du hast ganz Recht: Er hat wenig s tens Arbeit, und das freut ihn.
Tausend liebe
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