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Rotkäppchen und der böse Wolf

Rotkäppchen und der böse Wolf

Titel: Rotkäppchen und der böse Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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gepresster, heiserer Stimme. »Sie kennen wohl die Redensart, etwas sei weder Fisch noch Fleisch, nicht wahr?«
    Mrs Blenkensop nickte.
    »Sehen Sie, das passt genau auf mich«, sagte Carl bitter. »Ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Ich flüchtete aus meinem Vaterland, floh vor Ungerechtigkeit und Grausamkeit. Hier wollte ich die Freiheit finden, denn ich hasste Nazi-Deutschland. Aber zum Teufel, ich bin und bleibe ein Deutscher. Dagegen hilft gar nichts.«
    »Es ist wohl nicht leicht für Sie«, murmelte Tuppence.
    »Ach, nicht leicht! Ich sage Ihnen, ich bin Deutscher. Im Herzen, in allen meinen Gedanken bin ich Deutscher. Deutschland ist und bleibt mein Vaterland. Sie haben immer so freundlich mit mir gesprochen; ich glaube, Sie verstehen mich. Ich kann einfach nicht mehr. Wenn ich von bombardierten deutschen Städten lese, von deutschen Soldaten, die in den Tod gehen, von abgeschossenen deutschen Flugzeugen – es sind meine Landsleute, die da sterben! Und wenn der alte Eisenfresser, der Major, seine Zeitung liest und dann sagt: Diese Schweine – Herrgott, dann packt mich die Wut… Ich kann nicht mehr, sage ich Ihnen, ich kann nicht mehr.« Sehr leise fuhr er fort: »Und darum ist es vielleicht das Beste, ich mache Schluss.«
    Tuppence packte ihn am Arm. »Dummes Zeug«, sagte sie resolut. »Wie sollten Sie denn anders denken und empfinden? Das ist doch nur natürlich. Jedem würde es so gehen. Aber damit müssen Sie eben fertigwerden.«
    »Wenn man mich nur internierte! Es wäre leichter für mich.«
    »Ja, vielleicht. Aber inzwischen arbeiten Sie ja und machen sich nützlich. Nützen nicht nur England, sondern der ganzen Menschheit, stimmt das nicht? Sie arbeiten doch an der Seuchenbekämpfung, wenn ich nicht irre?«
    Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf.
    »Ja, und ich habe schon recht hübsche Erfolge. Eine ganz einfache Methode habe ich herausgefunden – billig und nicht schwierig in der Anwendung.«
    »Na, sehen Sie«, sagte Tuppence, »das ist doch etwas! Eine Arbeit, die sich lohnt. Die Leiden der Menschen mildern, aufbauen statt zerstören – ist das nicht eine große Befriedigung für Sie? Dass wir auf die Deutschen schimpfen, ist doch klar – drüben wird man wohl genauso auf die Engländer schimpfen. Aber wir sind alle Menschen, und im Menschlichen sind wir alle gleich. Das ist und bleibt wahr, und das andere ist nur die Kriegsmaske.«
    Während sie sprach, gingen ihr, wie vor Kurzem ihrem Mann, die letzten Worte Edith Cavells durch den Kopf: »Patriotismus ist nicht genug. Ich muss mein Herz von Hass frei halten.« Diese Frau, die ihr Land bis in den Tod geliebt hatte, bedeutete für sie und Tommy den höchsten und reinsten Ausdruck wahren Heldensinns und Opfermuts.
    Carl von Deinim ergriff ihre Hand und zog sie an die Lippen.
    »Ich danke Ihnen«, erwiderte er. »Was Sie sagen, ist gut und wahr. Ich will um Kraft ringen.«
    Lieber Gott, dachte Tuppence, während sie die Straße entlang stadtwärts ging, nun muss der einzige Mensch, der mir hier gefällt, gerade ein Deutscher sein! Es stellt alles auf den Kopf!
     
    Tuppence hielt sich genau an ihr Programm. Sie hatte zwar nicht die geringste Lust, nach London zu fahren, fand es aber doch angebracht, es zu tun, da sie es nun mal gesagt hatte.
    Sie löste eine Rückfahrkarte dritter Klasse, und als sie sich vom Schalter abwandte, lief sie Sheila Perenna in die Arme.
    »Hallo«, sagte Sheila. »Wohin geht die Reise? Ich muss mich hier nach einem Paket erkundigen, das verloren gegangen ist, wie es scheint.«
    Tuppence erzählte, was sie vorhatte.
    »Ach ja, richtig«, sagte Sheila beiläufig, »Sie sprachen ja davon, aber ich wusste nicht, ob Sie heute oder an einem andern Tag fahren wollten. Kommen Sie, ich bringe Sie zum Zug!«
    Sheila war heiterer als sonst; sie sah weder mürrisch noch finster aus. Ganz zugänglich und liebenswürdig plauderte sie über alltägliche Belanglosigkeiten und blieb bei Tuppence, bis der Zug abfuhr.
    Tuppence winkte ihr vom Fenster aus zu, solange sie das junge Mädchen sehen konnte; dann setzte sie sich auf ihren Eckplatz und versank in heftige Grübelei.
    War Sheila wirklich ganz zufällig gerade jetzt auf den Bahnhof gekommen? War es nicht eher ein Zeichen dafür, wie gründlich auf der anderen Seite gearbeitet wurde? Wollte sich Mrs Perenna vergewissern, dass diese Quasselstrippe, die Blenkensop, wirklich nach London fuhr?
    Es sah ganz so aus.
     
    Erst am nächsten Tag konnte Tuppence mit Tommy reden.

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