Rotkäppchens Rache
Seite des Gartens. »Kommt alle mit. Ihr braucht Essen und Ruhe.« An Talia gewandt fügte sie hinzu: »Meine Regeln gelten immer noch, Prinzessin.«
Talia wurde tatsächlich rot. »Jawohl, Mutter.«
»Welche Regeln?«, wollte Schnee wissen.
Talia zuckte die Schultern. »Nicht auf den Mauern herumlaufen oder sich in die Stadt schleichen. Nicht die Patienten bestehlen.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Weinstöcke. »Die verdammten Dinger nicht aus dem Boden reißen und verbrennen.«
Glucksend führte Khardija sie in einen weiteren Gang. Sie kamen an mehreren anderen Frauen in schwarzen Roben vorbei, bevor sie vor einer überwölbten Türöffnung stehen blieben. Khardija schob einen Vorhang aus Ziegenwolle zur Seite und wartete, während sie in ein leeres Zimmer dahinter traten. Schwere Teppiche bedeckten den Boden. In einer Ecke lagen einige zusammengerollte Schlafmatten. Eine einzelne Lampe stand in einem runden Fenster. Keine Möbel.
Die Decke bestand aus einer schweren, geflochtenen Matte aus ungefärbter Wolle, die straff über die Backsteinmauern gespannt war. Direkt darunter ragten Holzstifte aus den Wänden. An der linken Wand hingen sechs schwarze Roben.
Khardija ergriff Talias Arme, und auf ihrem Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck aus Stolz und Vorfreude. »Willkommen zurück, Prinzessin!«
Schnee wartete, bis sie gegangen war, ehe sie fragte: »Was kommt als Nächstes?«
Talia durchmaß langsam den Raum und ließ dabei die Finger über die Wände wandern. »Es gibt nur wenig, was wir heute Nacht noch tun könnten. Für den Moment seid ihr hier sicher. Esst, ruht euch aus. Morgen machen wir Jagd auf Zestan.«
*
Talias nackte Füße verursachten kaum ein Geräusch, als sie ihren Spaziergang beendete. Sie hatte die Kapuze ihrer Robe tief in die Stirn gezogen, sodass sie ihr Gesicht verbarg. Khardija war vielleicht nicht die Einzige, die sich an sie erinnerte, aber sie war die Einzige, der Talia vertraute.
Der Tempel hatte sich nicht verändert in den Jahren, in denen sie fort gewesen war. Dieselbe staubige Luft, dieselben rissigen Mauern, dieselbe Schonkost. Sogar die Tempelkatzen waren ihr vertraut.
Sie beobachtete, wie eine magere Katze im Garten verschwand und sich an eine Beute heranpirschte, die Talia nicht sehen konnte - eine der quastenschwänzigen Mäuse bestimmt, die immer die Schösslinge anknabberten. Talia konnte die Ähnlichkeit des Kätzchens mit seiner Mutter sehen, einem bemitleidenswerten alten Geschöpf namens Akhar’ba, das das gleiche gesprenkelte Fell trug, zumindest wenn ihm dieses Fell nicht gerade in Büscheln ausging. Danielle hätte sie gemocht. Die Schwestern hatten Akhar’ba dieselbe Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie ihren menschlichen Patienten entgegenbrachten.
Talia vergewisserte sich, dass der Korridor verlassen war, bevor sie die Kapuze zurückschob und nach oben blickte. Der Himmel Lorindars war selten so klar. Sie suchte, bis sie das schwache Lichtband entdeckte, das sich übers Firmament zog. Der Fluss der Toten, so pflegten die alten Priester es zu nennen. Bewacht von Halaka’ar dem Drachen, der dafür sorgte, dass jede Seele ihren richtigen Bestimmungsort fand.
Ein Schmerzensschrei ließ sie zusammenfahren. Auch die Geräusche der Verletzten waren vertraut, auch wenn sie zu den Dingen gehörten, die Talia nicht vermisst hatte. Als sie sich dabei ertappte, ohne nachzudenken in den vorderen Teil des Tempels zu eilen, um zu helfen, erinnerte sie sich lächelnd an Mutter Khardijas Worte. ›Wenn du bei uns bleiben willst, kannst du dich auch nützlich machen, Prinzessin hin oder her.‹
Talia verbrachte die nächste Stunde damit, einen kleinen Jungen ruhig zu halten, während eine andere Schwester versuchte, Glassplitter aus seiner Hand zu entfernen. Sie hatte schon gegen ausgewachsene Männer gekämpft, die sich mit weniger Wildheit gewehrt hatten, aber schließlich war auch das letzte Stückchen Glas beseitigt, und der Vater des Jungen konnte ihn in den Schlaf wiegen.
Ohne den Dank der Schwester zu beachten, kehrte Talia in ihr Zimmer zurück, bevor jemand sie in ein Gespräch verwickeln konnte. Sie fand Schnee schlafend an der Wand vor; ihre Spiegel hielten nach wie vor die Illusion von brauner Haut aufrecht. Roudette hatte sich fest in der Ecke zusammengerollt und zuckte im Traum.
Danielle saß unter dem Fenster und hielt ihr Armband in der Hand. Talia hatte keinen Zweifel, dass sie Prinz Jakobs schlummernde Gestalt im Spiegel erblicken
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