Rotkäppchens Rache
diesem Tag hätte mich einer von Jihabs Soldaten beinah getötet, denn er hielt mich für einen Dämon, der den Dornen entkommen war. Als ihnen klar wurde, wer diese blutende, wimmernde Kreatur war, brachten sie mich in den Tempel. Die Schwestern taten ihr Möglichstes, um meine Wunden zu versorgen. Sie schickten jemanden aus, um meine Kinder aus dem Schloss zu holen -«
»Du hast sie dort gelassen?«, fragte Danielle. Talia sah sie einfach an, bis sie den Blick abwandte. Danielle sagte: »Tut mir leid, Talia. Ich will mir kein Urteil bilden.«
»Ich wusste nicht, wer sie waren. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich sie mit einer gebrochenen Hand nicht tragen können.« Nur, dass sie es tief im Innern doch gewusst hatte. Die Schmerzen und das Blut auf ihren Lenden waren Beweis genug gewesen. Sie hatte es einfach nicht glauben wollen. »Jihabs Männer benachrichtigten ihn, und bald darauf kam er, um uns zu holen. Er und seine Mutter hatten bereits die Macht ergriffen, aber ich war der Schlüssel zur Autorisierung ihrer Herrschaft. Er hatte Dornröschen erweckt - zweifellos war er dazu ausersehen, König zu sein. Und noch am selben Tag, als wir zu seinem Palast zurückkehrten, wurden wir verheiratet.«
Sie schloss die Augen und war nicht so dumm, gegen die folgenden Erinnerungen ankämpfen zu wollen: Wenn sie Widerstand leistete, würden sie nur schlimmer werden. Ihre Hochzeit war eine in aller Eile arrangierte Farce im Palast, vorgenommen von einem Elfenpriester mit einem Bart, der so dicht war, dass Tiere darin lebten.
»Nachdem ich ihn getötet hatte, floh ich und schlug mich nach Jahrasima durch.« Sie erinnerte sich an die Wärme seines Bluts an ihren Händen, an die Art, wie es ihr zwischen den Fingern klebte, als es trocknete. Er war der erste Mensch, den sie je getötet hatte. »Ich kam zu diesem Tempel, denn ich wusste nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen. Sie gewährten mir Schutz, selbst dann noch, als sie erfuhren, dass ich den ›rechtmäßigen‹ Herrscher Aratheas ermordet hatte. Wäre ich entdeckt worden, wäre dieser Tempel niedergebrannt worden und mit ihm alle darin. Doch statt mich abzuweisen, taten Khardija und die Übrigen, was in ihrer Macht stand, um mir zu helfen.«
Nur wenige hatten die wahre Identität ihrer Patientin gekannt. Talia lächelte, als sie sich an den Tag erinnerte, an dem Schwester Faziya die Wahrheit erfahren hatte. Sie hatte eine Reihe von Flüchen vom Stapel gelassen, die selbst Talia die Röte ins Gesicht getrieben hatten.
Ihre Muskeln, die jetzt schon angespannt waren, strafften sich noch mehr beim Gedanken an Faziya. Was konnte so wichtig gewesen sein, dass sie fortgehen musste? Talia warf einen Blick auf den Eingang; sie fragte sich, ob sie Mutter Khardija mehr hätte bedrängen sollen, um zu erfahren, wo sie sich aufhielt. Nicht dass es einen Unterschied gemacht hätte - in ihrer ganzen Zeit an diesem Ort hatte Talia nicht ein Mal eine Debatte mit Mutter Khardija gewonnen.
Sie rieb sich die Augen und drängte die alten Gefühle zurück, bis sie die Fassung wiedererlangt hatte. »Du solltest versuchen zu schlafen, Prinzessin.«
Bevor Danielle eine Antwort geben konnte, fauchte der Kater auf ihrem Schoß, sträubte das Fell und sprang auf den Boden. Er lief zum Eingang, dann kam er zurückgerannt und zwickte Danielle ins Handgelenk. Er fauchte wieder und schlug mit dem Schwanz um sich.
»Was ist los?«, fragte Danielle.
Talia war bereits auf den Füßen. In weiter Ferne konnte sie das Bellen von Jagdhunden hören.
»Sie kommen.« Roudette stand auf, zog den Umhang fest um sich und ging zum Eingang. »Ich brauche eine Waffe.«
»Wer kommt?«, fragte Talia.
Roudette zog den Vorhang zurück und spähte in den Gang. »Ich hatte dich gewarnt, dass dies ohne meine Hilfe deine letzte Nacht als freie Frau sein würde. Zestan hat die Jagd auf dich eröffnet, Prinzessin.«
Das Hundegebell war inzwischen so laut geworden, dass sogar Schnee erwachte. Sie gähnte und blickte sich um, während die Magie ihres Halsbands das Zimmer erhellte. »Es ist zu laut in Arathea!« Sie runzelte sie Stirn. »Das sind keine natürlichen Hunde, oder?«
»Diese Hunde signalisieren die Ankunft der Wilden Jagd«, antwortete Roudette. »Sie kommen wegen Talia.«
Kapitel 9
Mit geschlossenen Augen stand Roudette da und lauschte der Wilden Jagd. Dem Heulen der Hunde, den Hufschlägen, die über die Straße dröhnten, und den Schreien derer, die in ihrem Weg standen. Die
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