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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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verjagte, die leisen Stimmen, die einen an die Widersprüche erinnerten, dass das Bild eben doch noch nicht ganz perfekt war. Zweifel sind wie kaltes Wasser, und man will kein kaltes Wasser, wenn man im Begriff ist, einen Mörder zu fangen. Doch Harry war früher schon einmal sicher gewesen – und hatte sich geirrt.
    »Die Kommandeure in Steinkjer haben die Combat-Boots direkt in den USA bestellt, es kann also nicht so viele Läden geben, wo man sie hier kaufen kann. Und wenn diese Stiefel fast neu waren …«, sagte Halvorsen.
    Harry folgte seinem Gedankengang sofort.
    »Gut! Finden Sie heraus, wer die verkauft, und fangen Sie mit diesenMilitärshops an. Anschließend machen Sie die Runde mit den Bildern und fragen, ob jemand diesem Typen in der letzten Zeit solche Schuhe verkauft hat.«
    »Harry … äh …«
    »Ja, ich weiß, ich werde das mit Møller zuerst regeln.«
    Harry wusste, dass die Chancen, einen Verkäufer zu finden, der sich an alle Kunden erinnerte, denen er Schuhe verkauft hatte, minimal waren. Die Chancen waren aber vielleicht besser, wenn die Kunden eine Sieg-Heil-Tätowierung im Nacken hatten. Wie auch immer – Halvorsen durfte ruhig lernen, dass neunundneunzig Prozent einer Mordermittlung darin bestanden, am falschen Ort zu suchen. Harry legte auf und rief Møller an. Der Dezernatsleiter hörte sich seine Argumente an. Als Harry fertig war, räusperte sich Møller und sagte:
    »Es ist schön zu hören, dass Tom Waaler und du endlich einmal gleicher Meinung seid.«
    »Was?«
    »Er hat mich vor einer halben Stunde angerufen und ungefähr das Gleiche gesagt wie du jetzt, Harry. Ich habe ihm die Erlaubnis erteilt, Sverre Olsen zum Verhör zu holen.«
    »Wahnsinn.«
    »Nicht wahr?«
    Harry wusste nicht recht, was er sagen sollte. Als Møller fragte, ob er noch mehr auf dem Herzen hätte, murmelte Harry nur »Danke« und »Wiederhören« und legte auf. Er starrte aus dem Fenster. Die Rushhour in der Schweigaardsgate hatte gerade erst begonnen. Er suchte sich einen Mann mit einem grauen Mantel und einem altmodischen Hut aus und folgte ihm mit den Augen, bis er außer Sichtweite war. Harry spürte, dass sein Puls jetzt fast wieder ruhig war. Klippan. Er hatte das fast vergessen, doch jetzt kam es wie ein lähmender Kater zurück. Er fragte sich, ob er Rakels interne Nummer wählen sollte, schob den Gedanken aber schnell wieder von sich.
    Da geschah etwas Merkwürdiges.
    Eine Bewegung am Rand seines Blickfeldes lenkte seine Aufmerksamkeit automatisch auf etwas außerhalb des Fensters. Er erkannte zuerst nicht, was es war, nur dass es sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Er öffnete seinen Mund, doch das Wort oder der Schrei oder was immer es war, was sein Hirn formulieren wollte, kam niemalsüber seine Lippen. Ein weiches Knallen war zu hören, die Scheibe vibrierte leicht, und Harry saß da und starrte auf einen feuchten Fleck, an dem eine graue Feder hing und im Frühlingswind zitterte. Er blieb noch einen Moment sitzen. Dann nahm er seine Jacke und rannte zum Aufzug.
     
    Krokliveien, Bjerke, 2. Mai 2000
     
    63 Sverre Olsen drehte das Radio lauter. Er blätterte langsam durch die neueste Frauenzeitschrift seiner Mutter und hörte den Nachrichtensprecher über die Drohbriefe reden, die die Leiter des Gewerkschaftsbundes erhalten hatten. Es tropfte unaufhörlich aus dem Loch in der Dachrinne vor dem Wohnzimmerfenster. Er lachte. Das hörte sich an wie eine Glanzleistung von Roy Kvinset. Hoffentlich hatte er dieses Mal weniger Schreibfehler gemacht.
    Er sah auf die Uhr. Das würde am Nachmittag sicher das Gesprächsthema in Herbert’s Pizza sein. Er war vollkommen blank, aber er hatte in dieser Woche den alten Wilfa-Staubsauger repariert und vielleicht würde ihm die Mutter ja einen Hunderter leihen. Scheiß-Prinz! Vor vierzehn Tagen hatte er das letzte Mal beteuert, Sverre würde sein Geld »in ein paar Tagen« bekommen. Inzwischen begannen schon einige der Leute, denen Sverre selbst Geld schuldete, einen unangenehm drohenden Tonfall anzuschlagen. Und das Schlimmste von allem: Sein Tisch in Herbert’s Pizza war von anderen übernommen worden. Die Sache in Dennis Kebab lag mittlerweile lange zurück.
    Wenn er bei Herbert’s saß, hatte er in der letzten Zeit immer stärker den Wunsch, aufzustehen und herauszuschreien, dass er diese Bullentussi in Grünerl ø kke platt gemacht hatte. Dass das Blut beim letzten Schlag nur so gespritzt hatte und dass sie mit einem Schrei auf den Lippen gestorben

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