Rotkehlchen
war. Er brauchte ja nicht zu sagen, dass er keine Ahnung davon gehabt hatte, dass sie eine Polizistin war. Oder dass er bei all dem Blut beinahe hätte kotzen müssen.
Scheiß-Prinz, der hatte doch die ganze Zeit gewusst, dass sie eine Polizistin war!
Sverre hatte sich diese Vierzigtausend verdient, da sollte keiner etwas anderes behaupten. Doch was konnte er tun? Nach allem, was geschehen war, hatte ihm der Prinz verboten, ihn anzurufen. Eine Verhaltensmaßregel, hatte er gesagt, bis der größte Aufruhr vorüber wäre.
Die Scharniere der Gartentür kreischten. Sverre stand auf, schaltete das Radio aus und hastete in den Flur. Als er die Treppe hinaufging, hörte er Mutters Schritte draußen auf dem Kies. Dann war er in seinem eigenen Zimmer und hörte ihre Schlüssel in der Tür. Während sie dort unten herumhantierte, stand er mitten in seinem Zimmer und betrachtete sich im Spiegel. Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel und spürte, wie die millimeterlangen Haarstoppeln seine Finger bürsteten. Er hatte sich entschlossen. Auch wenn er die Vierzigtausend bekam, würde er sich einen Job suchen. Er war es verdammt leid, hier zu Hause herumzuhängen, und – wenn er die Wahrheit sagen sollte – er war auch die »Kameraden« bei Herbert’s leid. Er war es leid, Leuten hinterherzurennen, die doch nichts zustande brachten. Schließlich hatte er die Starkstromleitung in der Berufsschule repariert; alles, was mit Strom zu tun hatte, lag ihm, und viele Elektriker suchten doch Lehrlinge oder Handlanger. In ein paar Wochen würden seine Haare lang genug sein, so dass man die Sieg-Heil-Tätowierung an seinem Hinterkopf nicht mehr sah.
Haare, ja. Plötzlich fiel ihm wieder der Anruf ein, den er heute Nacht bekommen hatte. Der Polizist mit diesem Trondheimer Dialekt, der ihn gefragt hatte, ob er rote Haare hätte! Als Sverre heute Morgen aufgewacht war, hatte er das für einen Traum gehalten, bis seine Mutter ihn beim Frühstück fragte, was das für Leute seien, die um vier Uhr in der Nacht anriefen.
Sverre riss seinen Blick vom Spiegel los und sah sich im Zimmer um. Das Bild vom Führer, die Konzertposter, die Hakenkreuzflagge, die Eisernen Kreuze und das Blood & Honour-Plakat, eine Nachbildung von Joseph Goebbels’ alten Propagandaplakaten. Zum ersten Mal empfand er diesen Raum als das Zimmer eines Jugendlichen. Wenn man das Banner durch einen Schal von Manchester United austauschte und das Bild von Heinrich Himmler durch David Beckham ersetzte, hätte man glauben können, ein Vierzehnjähriger wohne hier.
»Sverre!« Das war Mutter.
Er schloss die Augen.
»Sverre!«
Es verschwand nicht, es verschwand nie.
»Ja!«, schrie er so laut, dass sein ganzer Kopf vibrierte.
»Hier ist jemand, der mit dir sprechen will!«
Hier? Mit ihm? Sverre riss die Augen wieder auf und starrte entgeistert in den Spiegel. Wer kam denn hierher? Es wusste doch keiner, dass er hier wohnte. Sein Herz begann zu hämmern. Konnte das wieder dieser Trondheimer Polizist sein?
Er wollte zur Tür gehen, als sich diese öffnete.
»Guten Tag, Olsen.«
Die niedrige Frühlingssonne strahlte ihm durch das Fenster im Treppenhaus entgegen, so dass er nur die Silhouette des Mannes wahrnahm, der in der Türöffnung stand. Doch er hörte sehr genau, wer das war.
»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«, fragte der Prinz und schloss die Tür hinter sich. Neugierig sah er sich um. »Ein interessantes Zimmer hast du hier.«
»Wieso hat sie Sie …«
»Ich hab deiner Mutter das hier gezeigt.« Der Prinz wedelte mit einem Ausweis herum, auf dem ein goldenes Reichswappen auf hellblauem Grund prangte. POLIZEI stand auf der anderen Seite.
»Verflucht«, sagte Sverre und schluckte. »Ist der echt?«
»Wer weiß? Beruhig dich, Olsen. Setz dich.«
Der Prinz deutete auf das Bett und setzte sich selbst auf den Schreibtischstuhl.
»Was machen Sie hier?«, fragte Sverre.
»Was glaubst du?« Er lächelte Sverre breit an, der sich auf den äußersten Rand des Bettes gesetzt hatte. »Die Stunde der Abrechnung, Olsen.«
»Die Stunde der Abrechnung?«
Sverre hatte sich noch nicht wieder gesammelt. Woher wusste der Prinz, dass er hier wohnte? Und dieser Polizeiausweis. Als Sverre ihn ansah, wurde ihm plötzlich klar, dass der Prinz wirklich Polizist sein konnte: der gerade Scheitel, die kalten Augen, das solariumgebräunte Gesicht, der trainierte Oberkörper, die kurze Jacke aus weichem schwarzem Leder und die blauen Jeans. Merkwürdig, dass ihm das nicht
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