Rotkehlchen
unglücklich aussah.
»Wir haben doch erst am späten Vormittag erfahren, dass es Herr Brandhaug war, der erschossen worden ist«, sagte er. »Sonst wären wir wohl schlau genug gewesen, sein Zimmer nicht zu betreten.«
Harry nickte und nahm den letzten Zug von der Zigarette. Das Hotelzimmer war schließlich kein Tatort, es wäre bloß interessant gewesen, ob Haare auf dem Kopfkissen lagen, und die Person zu finden, die vielleicht als Letzte mit Brandhaug gesprochen hatte.
»Tja, dann können wir hier wohl nichts mehr machen«, sagte der Empfangschef mit einem Lächeln, als wollte er gleich zu weinen anfangen.
Harry antwortete nicht. Er hatte bemerkt, dass der Empfangschef umso unruhiger wurde, je weniger er und Halvorsen sprachen. Also schwieg er und wartete, während er die Glut seiner Zigarette betrachtete.
»Äh …«, sagte der Empfangschef und fuhr sich mit der Hand über den Jackenkragen.
Harry wartete. Halvorsen sah zu Boden. Der Empfangschef hielt fünfzehn Sekunden durch, ehe es aus ihm herausplatzte.
»Aber es ist natürlich vorgekommen, dass er da oben Besuch bekommen hat.«
»Von wem?«, fragte Harry, ohne von der Glut aufzusehen. »Von Frauen und Männern …«
»Von wem?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Es geht uns nichts an, mit wem der Herr Staatssekretär seine Zeit verbringen möchte.«
»Wirklich?«
Pause.
»Aber wenn hier eine Frau hereinkommt, die ganz sicher kein Gast ist, dann achten wir natürlich schon einmal darauf, in welche Etage sie fährt.«
»Würden Sie sie wiedererkennen?«
»Ja.« Die Antwort kam ohne Zögern. »Sie war sehr schön. Und reichlich angetrunken.«
»Eine Prostituierte?«
»Dann aber Luxusklasse. Und die sind in der Regel nüchtern. Aber was weiß ich davon, dieses Hotel ist ja nicht gerade …« »Danke«, sagte Harry.
An diesem Nachmittag brachte der Südwind plötzlich warme Luft mit, und als Harry nach der Besprechung mit Meirik und der Polizeipräsidentin nach draußen kam, wusste er instinktiv, dass etwas vorbei war und eine neue Saison begonnen hatte.
Sowohl die Polizeipräsidentin als auch Meirik hatten Brandhaug gekannt. Doch nur beruflich, unterstrichen sie beide. Ganz offensichtlich hatten die beiden Vorgesetzten miteinander gesprochen, und Meirik begann das Treffen, indem er nachdrücklich erklärte, dass dieser Spionageauftrag in Klippan ein für alle Mal erledigt sei. Ja, es kam Harry so vor, als wäre Meirik beinahe erleichtert darüber. Die Polizeipräsidentin unterbreitete dann ihren Vorschlag, und Harry erkannte, dass sein Gepolter in Sydney und Bangkok trotz allem einen gewissen Eindruck bei der Polizeiführung hinterlassen hatte.
»Ein typischer Libero«, hatte die Polizeipräsidentin über Harry gesagt. Und dass er auch jetzt diese Rolle spielen solle.
Eine neue Saison. Der warme Föhnwind machte Harry den Kopf klar, und er gönnte sich ein Taxi, da er noch immer mit der schweren Tasche herumrannte. Kaum hatte er seine Wohnung in der Sofiesgate betreten, warf er einen Blick auf den Anrufbeantworter. Das rote Auge leuchtete. Kein Blinken, keine Nachrichten.
Er hatte Linda dazu gebracht, die ganze Akte zu kopieren, und verbrachte den Rest des Abends damit, all das noch einmal durchzugehen, was sie über die Morde an Hallgrim Dale und Ellen Gjelten hatten. Nicht dass er damit rechnete, etwas Neues zu finden, aber es stützte seine Phantasie. Dazwischen sah er immer wieder zum Telefon und fragte sich, wie lange er durchhalten würde, ehe er sie anrief. Der Brandhaug-Mord dominierte auch die Fernsehnachrichten. Gegen Mitternacht ging er ins Bett. Um eins stand er auf, zog den Telefonstecker heraus und stellte den Apparat in den Kühlschrank. Um drei schlief er ein.
Meilers Büro, 12. Mai 2000
75 »Nun?«, fragte Møller, nachdem Harry und Halvorsen den ersten Schluck Kaffee genommen hatten und Harry mit einer Grimasse zum Ausdruck gebracht hatte, was er davon hielt.
»Ich glaube, die Annahme, dass das Attentat und der Zeitungsartikel etwas miteinander zu tun haben, ist eine Sackgasse«, sagte Harry. »Warum?« Møller lehnte sich im Stuhl nach hinten.
»Weber meinte, der Attentäter hätte schon früh am Tag im Wald gewartet, also höchstens ein paar Stunden, nachdem diese Ausgabe vom Dagbladet erschienen war. Doch das war keine Affekthandlung, das war ein gut geplantes Attentat. Der Betreffende wusste schon eine geraume Weile, dass er Brandhaug töten würde. Er hatte sich umgesehen, herausgefunden, wann Brandhaug
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