Rotkehlchen
Bellen im Hintergrund.
»Wer wird Sie töten, Frau Juul?«
»Er ist jetzt auf dem Weg hierher. Ich weiß, dass er es ist. Er … er …«
»Versuchen Sie, sich zu beruhigen, Frau Juul. Wovon reden Sie?«
»Er hat seine Stimme verstellt, aber dieses Mal habe ich ihn wiedererkannt. Er wusste, dass ich Olaf Lindvig im Lazarett über die Haare gestrichen habe. Da ist es mir klar geworden. Mein Gott, was soll ich nur tun?«
»Sind Sie alleine?«
»Ja«, sagte sie. »Ich bin alleine. Ich bin ganz, ganz alleine, verstehen Sie?«
Das Bellen im Hintergrund klang jetzt richtiggehend frenetisch. »Können Sie nicht zu Ihrem Nachbarn hinüberlaufen und dort auf uns warten? Wer ist es …«
»Er wird mich finden! Er findet mich überall!«
Sie war hysterisch. Harry legte seine Hand auf die Sprechmuschel und sagte zu Linda, sie solle die Einsatzzentrale anrufen und einen Streifenwagen zu den Juuls im Irisvei beordern. Dann sprach er zu Frau Juul und hoffte, dass sie seine eigene Aufregung nicht heraushörte:
»Frau Juul, schließen Sie wenigstens die Türen ab, wenn Sie nicht aus dem Haus gehen wollen. Wer …«
»Sie verstehen nicht«, stammelte sie. »Er … er …« Ein Piepen war zu hören. Das Besetztzeichen. Die Verbindung war unterbrochen.
»Verdammt! Entschuldigung, Linda. Sagen Sie, dass es mit dieser Streife wirklich eilt. Und dass sie vorsichtig sein sollen, es kann sich um einen bewaffneten Einbrecher handeln.«
Harry rief die Auskunft an, bekam Juuls Nummer und wählte sie. Es war noch immer besetzt. Harry warf Linda den Hörer zu.
»Wenn Meirik nach mir fragt, ich bin auf dem Weg zu Even Juuls Haus.«
Irisvei, 12. Mai 2000
78 Als Harry in den Irisvei einbog, sah er sofort den Polizeiwagen vor Juuls Haus. Die leere Straße mit den Holzhäusern, die Schmelzwasserpfützen, das sich langsam auf dem Wagendach drehende Blaulicht, die zwei neugierigen Kinder auf den Fahrrädern – das alles sah aus wie eine Wiederholung der Szenerie vor dem Haus von Sverre Olsen. Harry hoffte nur, dass es nicht noch mehr Parallelen gab.
Er parkte, stieg aus dem Escort und ging langsam auf das Gartentor zu. Als er es hinter sich schloss, hörte er jemanden auf die Treppe treten.
»Weber«, sagte Harry überrascht. »Unsere Wege kreuzen sich aber oft.«
»Scheint so.«
»Ich wusste nicht, dass du auch Streife fährst.«
»Du weißt ganz genau, dass ich das nicht tue. Aber Brandhaug wohnt ja in der Nähe, und wir hatten uns gerade in den Wagen gesetzt, als die Meldung über Funk kam.«
»Was ist passiert?«
»Was fragst du mich? Es ist niemand zu Hause. Aber die Tür stand auf.«
»Habt ihr euch umgesehen?«
»Vom Keller bis zum Dachboden.«
»Merkwürdig. Der Hund ist anscheinend auch nicht hier.«
»Menschen und Hunde, alle weg. Aber es scheint jemand im Keller gewesen zu sein, ein Kellerfenster ist eingeschlagen worden.«
»Aha«, sagte Harry und sah über den Irisvei. Zwischen den Häusern erkannte er einen Tennisplatz.
»Sie kann zu einem der Nachbarn gegangen sein«, meinte Harry. »Ich habe sie darum gebeten.«
Weber begleitete Harry in den Flur. Ein junger Beamter stand vor dem Spiegel, der über dem Telefontischchen stand.
»Nun, Moen, irgendwelche Anzeichen für die Anwesenheit einer höheren Intelligenz?«, fragte Weber brummig.
Moen drehte sich um und nickte Harry kurz zu.
»Tja«, sagte Moen. »Ich weiß nicht, ob das intelligent oder bloß merkwürdig ist.«
Er zeigte auf den Spiegel. Die beiden anderen traten näher. »Hm«, sagte Weber.
Es sah aus, als wären die großen roten Buchstaben mit Lippenstift auf den Spiegel geschmiert worden:
GOTT IST MEIN RICHTER
Harrys Mund fühlte sich wie die Innenseite einer Apfelsinenschale an.
Das Glas der Haustür klirrte, als diese aufgerissen wurde.
»Was tun Sie hier?«, fragte die Gestalt, die vor ihnen im Gegenlicht stand. »Und wo ist Burre?«
Es war Even Juul.
Harry saß mit einem offensichtlich besorgten Even Juul am Küchentisch. Moen machte die Runde in der Nachbarschaft, um nach Signe Juul zu suchen und zu fragen, ob jemand etwas gesehen hatte. Weber hatte dringende Sachen im Fall Brandhaug zu erledigen und musste mit dem Streifenwagen los, und Harry versprach, Moen später mitzunehmen.
»Für gewöhnlich hat sie Bescheid gesagt, wenn sie weggegangen ist«, sagte Even Juul. »Sagt sie Bescheid, meine ich.«
»Ist das ihre Schrift da auf dem Spiegel?«
»Nein«, erwiderte er. »Das glaube ich nicht.«
»Ist es ihr
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